Leadership & Karriere Entscheider: Darf man die Weihnachtsfeier schwänzen?

Entscheider: Darf man die Weihnachtsfeier schwänzen?

Ja.

Weihnachtsfeiern. Auf die freue ich mich so sehr wie auf Onkel Eberhardts Geburtstag. Beide Anlässe zwingen mich in einen vermieften, holzvertäfelten Partykeller samt Zwangsgemeinschaft von Menschen, die schon nüchtern nur schwer zu ertragen sind. Und im Hintergrund immer ein Mettigel. Mieses Essen, miese Gespräche, eine Kakofonie aus Schnapsatem, aufdringlichem Parfüm und schrillem Gelächter. Jedes Jahr dieselben Gestalten: die besoffene Kollegin, die nicht aufhört zu baggern. Der zickige Kollege. Die Praktikant*innen, die noch nicht gelernt haben, dass man sich hinter der Dorfdisco auf die eigene Schuhe kotzen kann – auf einer Firmenfeier aber nicht. Schlimme Tischreden. Und dann diese Tischmanieren. Anschließend das anonyme Wichteln: Hat sich schon jemals jemand über ein Wichtelgeschenk gefreut? Die mir am meisten verhasste (und alleinstehende) Kollegin hat letztens von mir ein Single-Raclette bekommen, mit zwei traurigen Pfännchen und einem winzigen Stövchen. Nun heult sie auf dem Klo.

Was die Kolleg*innen nicht verstehen: In mir schlummert eine große Abneigung gegen sie, und darüber, dünn wie Eis auf dem Landwehrkanal im März, liegt eine Schicht Höflichkeit. Aus einem Grund, den ich nicht verstehe, werde ich als gesellig und freundlich empfunden: „Hey, du erzählst ja nie was von dir!“, heißt es aber irgendwann. Äh, ja, genau. Hau ab. Ich verdiene hier doch nur meine Miete, bitte lasst mich in Ruhe. Mit Familie kann man brechen, aber sich mit den Kolleg*innen zu überwerfen führt in die Arbeitslosigkeit. Also lächeln. Wenn ich endlich zum Taxi schleiche, erwischt mich garantiert die schlimme Kollegin: „Huhu, warte, ich hole nur meinen Mantel!“ Dann sitze ich 20 Minuten im Taxi, das Taxameter läuft, und wenn die Kollegin endlich da ist, weint sie wieder, weil sie besoffen und einsam ist, aber nun in meinen Mantelkragen. Und genau dann weiß ich, dass ich im nächsten Jahr nicht wieder schon vor Dezember alle meine Urlaubstage verjuble.

Saskia Otto

 

Nein.

Um Himmels willen, nein! Die Büro-Weihnachtsfeier zu schwänzen ist ungefähr so, als ließe man eine totale Sonnenfinsternis sausen, um endlich mal den Keller aufzuräumen. Als Büromensch muss man die Chance, Kolleg*innen bei spannenderen Aktivitäten als dem allmorgendlichen Kaffeekochen oder dem allnachmittäglichen Kaffeekochen zu begegnen, unbedingt wahrnehmen. Nur auf Weihnachtsfeiern lassen sich alle mal so richtig gehen, weil die kommenden Feiertage, so die Idee, jede Peinlichkeit aus dem Gedächtnis löschen: Am Ende bleibt höchstens die Erinnerung an einen irgendwie doch ganz witzigen, befreit tanzenden Controller zurück. Doch auch weniger voyeuristisch veranlagte Menschen müssen sich die Weihnachtsfeier unbedingt gönnen: passables Essen, Getränke auf Firmenkosten, womöglich sogar musikalische Untermalung eines DJs, der nicht seinen eigenen Vornamen im Künstlernamen trägt – da freut man sich doch, selbst wenn ansonsten nichts wirklich Spannendes passiert. Und wehe dem, der nicht da war, als die Chefin mit dem Praktikanten auf dem Klo erwischt oder der Azubi vollgekotzt im Konferenzraum aufgefunden wurde.

 

Nicht überzeugt? Dann die Logik der Pascal’schen Wette heranziehen, die ja sonst als Argument pro Götterglaube herhält: Bleibt man zu Hause und es passiert nichts, hat man einerseits einen recht hohen positiven Nutzen. Bleibt man aber zu Hause und es passiert etwas, egal wie gering die Wahrscheinlichkeit, erleidet man einen unendlich hohen negativen Nutzen. Will man sich noch Jahre danach die immergleichen Geschichten anhören müssen, ohne selbst mitlachen zu können? Eben. Und der Taumel nach unten passiert rasant: Aus dieser Frustration folgt Abneigung gegenüber den Kolleg*innen, folgt innere Kündigung, folgt Entlassung wegen mangelnden Arbeitseifers, folgt finanzielle Not, folgt Scheidung, folgt Drogenabhängigkeit der Kinder … und das alles nur, weil man dachte, dass man die Trottel nicht auch noch auf einer Party erleben muss.

Ernst Jordan

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