Leadership & Karriere Twitch: Von der Nische zum Mainstream

Twitch: Von der Nische zum Mainstream

Die Plattform gilt als Nischenentertainment für Gamer. Dabei experimentiert Twitch mit Tools und Formaten, die Mainstreammedien radikal verändern könnten.

Das soll die Unterhaltung der nächsten Generation sein? Schaut man an einem Samstagnachmittag Ende September, was auf der Livestrea­ming­-Platt­form Twitch gerade läuft, kann man daran Zweifel hegen. Klar, dass viele Menschen Spaß dabei haben, stundenlang zuzuschauen, wie andere Videogames spielen, das weiß man inzwischen. Auch, dass es tatsächlich Leute gibt, die gerne junge Frauen dabei beobachten, wie sie absurde Mengen Essen in sich reinstopfen. Aber warum gucken hier gerade 280 Menschen einem Typen zu, wie er sich durch die AGBs eines Reiseveranstalters scrollt und dabei selber gähnen muss. Haben die echt nichts Besseres zu tun, als einem Wildfremden bei der Planung seines Tauchurlaubs zuzuschauen? Bei der ersten Begegnung wirkt Twitch befremdlich, wenn nicht bizarr. Und womöglich schreibt man anschließend ein melancholisches Feuilleton über die Plattform und die Gesellschaft überhaupt. Nur übersieht man dann vermutlich, was auf der Streaming-Plattform eigentlich passiert: die nächste Revolution des Entertainments.

Twitch entstand 2007 aus der etwas eitlen Überzeugung, die Welt würde sich für das Leben von Justin Kan interessieren. Kan, damals 23, befestigte eine Kamera auf einem Fahrradhelm und begann seinen Alltag auf der Website Justin.tv live zu übertragen: wie er Auto fuhr, sich mit Freunden traf oder Videospiele zockte. Kan hatte sich zum Testimonial seines Startups gemacht, dessen Plattform es jedem Menschen mit Internet und Webcam ermöglichen wollte, einen eigenen TV-Kanal zu eröffnen. Es gehe ihm um die „Demokratisierung des Mediums“, sagte Kan damals. Mit dem kalkulierten Hype um seinen 24/7-Selbstversuch startete der Aufstieg von Justin.tv, die Zahl der Streamer wuchs. Populärster Content waren Gamer, die das Spiel auf ihrem Monitor streamten und zudem selbst klein im Bild zu sehen waren, wie sie das Spielgeschehen kommentierten und mit ihren Zuschauern per Chat interagierten. 2011 wurde dieses Let’s Play genannte Genre auf die neue Plattform Twitch.tv ausgegliedert. Diese hatte bald mehr Zuschauer als Justin.tv selbst, das 2014 schließlich abgeschaltet wurde, während sich Amazon das Gaming-Spin-off Twitch für 970 Mio. Dollar einverleibte.

Aktuell zählt Twitch 15 Millionen tägliche User, die im Schnitt 95 Minuten auf der Plattform verbringen. Die meisten von ihnen stammen aus den USA und Korea, Deutschland folgt auf Platz drei. Die Nutzer sind meist zwischen 20 und 35, überdurchschnittlich gebildet, kaufkräftig und in der Mehrheit männlich. Kurz: Bei Twitch tummelt sich eine attraktive Zielgruppe, die über andere Kanäle schwer zu erreichen ist. Und da­rum reiste Burkhard Leimbrock Mitte September von Hamburg nach Köln zur Marketing-Kongressmesse Dmexco, wo er die Plattform erklärte, deren Kontinentaleuropageschäft er seit Mai 2017 aufbaut.

„Ich war erstaunt, wie groß das Ganze ist“, erinnerte sich Leimbrock auf der Dmexco-Bühne an seine Anfangszeit bei Twitch. Denn tatsächlich bekommt man als Nicht-Gamer von der Plattform bislang meist nur indirekt etwas mit. Etwa, wenn man erfährt, dass die grotesken Verrenkungen mancher Fußballer nach ihrem Treffer am Spielfeldrand Triumphtänze aus dem Spiel „Fortnite“ imitieren, das innerhalb der Twitch-Community extrem beliebt ist. Oder wenn der für seine Let’s-Plays dieses Games berühmte Streamer Ninja im Fernsehen verkündet, er verdiene dank Twitch 500 000 Dollar im Monat. Er dürfe das, sagt Leimbrock, nicht kommentieren. Hat die Info aber in seine Dmexco-Präse eingebaut. „Es gibt einen Eindruck, was möglich ist.“ Sagt er und lächelt ins Werberpublikum.

Geldmaschine für Star-Streamer

Konkrete Umsatzzahlen verrät Twitch nicht. Der Mutterkonzern Amazon gab nur bekannt, dass die Einnahmen im Geschäftsjahr 2016/17 um 71 Prozent gegenüber dem Vorjahr gestiegen seien. Das Geld kommt wie bei vielen vorwiegend werbefinanzierten Videoplattformen aus klassischen Pre- und Mid-Rolls, also Clips, die vor dem Start des Streams oder währenddessen ausgespielt werden. Daneben entwickelt Twitch mit den Kunden zusammen Influencer-Kampagnen, in die Streamer eingebunden werden. Anfangs warben ausschließlich Player aus erwartbaren Branchen auf Twitch: Publisher von Computerspielen, Hardwarehersteller und Filmstudios, die ihren neuen Action-Blockbuster bewarben. Mittlerweile jedoch stammen über 50 Prozent der Werbeeinahmen von Kunden aus dem Segment Fast Moving Consumer Goods, also etwa Unilevers Jungmänner-Deomarke Axe oder Frühstücksflocken von Kellogg’s. Besonders erfolgreiche Streamer, die Twitch zu Partnern adelt, bekommen einen Anteil der über ihren Kanal erlösten Werbeumsätze.

Daneben hat Twitch für seine Partner direkte Einnahmequellen geschaffen. Fans können Kanäle für 4,99 Dollar im Monat abonnieren oder Bits erwerben. Die setzen die Zuschauer dann ein, um eine sogenannte Cheer-Nachricht in den Stream zu senden, wofür der Streamer sich dann in der Regel direkt persönlich bedankt. Auf einem Dashboard, das Twitch ihnen zur Verfügung stellt, können die Streamer sehen, über welchen Kanal sie wie viel verdient haben. Twitch bindet seine Streamer damit eng an sich. So reiste vor ein paar Wochen die Führungsmannschaft nach Deutschland, um sich im Rahmen der Spielemesse Gamescon mit Partnern über deren Bedürfnisse auszutauschen. Ein Programm für externe Entwickler sorgt dafür, dass die Streamer permanent neue Erweiterungen wie etwa Umfragetools zur Verfügung gestellt bekommen. So versucht Twitch, der Konkurrenz, die längst das Potenzial interaktiver Videos erkannt hat, zu enteilen. Mit Erfolg: Youtube verkündete gerade das Aus für seine Gaming-Livestream-App. Der Service soll nun in das Hauptprodukt integriert werden.

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