Innovation & Future No Risk, no Gain

No Risk, no Gain

Janna Ensthaler blickt mit Sorge auf das europäische KI-Gesetz. Ist uns die Toleranz gegenüber Risiken flöten gegangen?

Diesen Artikel schreibe ich am selben Tag, an dem die EU ihren Artificial Intelligence Act (AIA) verabschiedet. Es sind nicht weniger als 900 Seiten, ein Mammutwerk und das erste KI-Gesetz der Welt. Es wäre fast schon lustig, wenn es nicht so tragisch wäre, dass wir hier jetzt mal die Ersten sind. KI ist eine derart umfassende Technologie mit Folgen, die schwierig – wenn überhaupt – abzusehen sind. Und natürlich ist es legitim, über ihre Regulierung nachzudenken. Aber es scheint mir genauso legitim zu fragen, ob ein Gesetz zur Regulierung einer Technologie zu erlassen, die so sehr am Anfang ihrer Entfaltung steht, nicht auch Ausdruck dafür ist, dass uns in Europa und oftmals gerade in Deutschland die Toleranz gegenüber Risiken abhandengekommen ist.

Beinahe jeder große technologische Fortschritt ging Anfangs einher mit Risiken für die Gesellschaft. Kein Automobil der frühen Jahre würde heute eine Straßenzulassung erhalten. Wir haben also mit einer unausgereiften, unsicheren Technologie gelebt. Das hat für eine gewisse Zeit zu mehr und schlimmeren Unfällen geführt, aber auf lange Sicht haben wir eine Infrastruktur erhalten, die die Gesellschaft – zumindest in ihrer Produktivität – positiv prägt. Heute scheint aber ausgerechnet der Auto-Supernation Deutschland die Bereitschaft, kurzfristige Risiken zu tolerieren, um langfristige Fortschritte zu erzielen, abhandengekommen zu sein.

Die Testbetriebe für das autonome Fahren finden in Städten wie Phoenix oder San Francisco statt, nicht in Hamburg oder Hannover. Dabei kommt es zu Unfällen – wie jüngst mit einem Fahrzeug des Anbieters Waymo. Das ist tragisch und hat natürlich auch zur vorübergehenden Unterbrechung des Betriebs geführt. Dennoch sollten wir nicht vergessen, dass hier eine Technologie erprobt wird, die dafür sorgen wird, Tausende von Unfällen pro Jahr zu verhindern. Allein in Deutschland starben im vergangenen Jahr 2.830 Menschen im Straßenverkehr. Autonomes Fahren hat das Potenzial, diese Zahl gegen null zu bringen. 

Die Frage, die wir uns als Gesellschaft stellen müssen, ist, wie viel Risiko wir kurzfristig tolerieren wollen, um Technologien zu entwickeln. Lautet die Antwort null, so wie es bei uns zu sein scheint, müssen wir akzeptieren, dass Fortschritte und die damit verbundenen Umsätze woanders gemacht werden, bevor wir sie dann einkaufen. Denn jede Technologie ist unausgereift, wenn sie auf den Markt kommt. Wie oft ist Windows 95 abgestürzt? Und wie werden wir 2034 auf die heute noch oft auftretenden Unsinns-Outputs von ChatGPT & Co. zurückblicken? Nun kann man argumentieren, dass KI ein allumfassendes, ein nicht kalkulierbares Risiko enthält. Das kann gut sein. Selbst hier scheitert aber das Argument, dieses Risiko in Europa regulieren zu wollen, an einem spieltheoretischen Problem. Wenn wir Europäer nicht die KI-Macht in den Händen halten, dann besitzen diese Macht weniger regulierte Staaten wie die USA oder China. Wir entscheiden uns also mit der Regulierung nicht dafür, dass KI keinen Einfluss auf uns nimmt. Und von außen müssen wir durch diese mangelnde Risikobereitschaft sogar davon ausgehen, dass wir in Zukunft durch KI dominiert und im schlimmsten Falle kontrolliert oder kolonialisiert werden.

Man könnte noch weitergehen und argumentieren, dass Technologie unterm Strich zu mehr Schaden führt als zu Gewinn. Spätestens seit den letzten Klimadaten hätte man hier ein Argument. Ich habe mich oft gefragt, wie es wäre, wenn wir alle noch als Indianer durch die Wälder zögen. Auch hier hilft die Spieltheorie, denn nur weil wir zu all dem „Stopp“ sagen, sagt es der Rest der Welt noch lange nicht. Der AI Act ist demnach kein guter Bote dafür, dass wir verstanden haben, welchen Risiken wir uns mit dieser Anti-Risiko-Haltung aussetzen. Das deutsche Vorzeigeunternehmen Biontech zog mit einem Teil seiner KI-gestützten Krebsforschung bereits nach England. Ein schlechtes Omen.

Janna Ensthaler (unser Editorial Angel) ist seit 2021 Partnerin des von ihr gegründeten Green Generation Funds, eines Risikokapitalfonds mit Fokus auf Investments in Greentech und Foodtech. Seit 2023 erscheint ihre Kolumne regelmäßig bei Business Punk.

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