Der größte Nord Stream-Coup kommt noch
Die zerstörte Gaspipeline ist Gegenstand von Verhandlungen zwischen den USA und Russland über einen Frieden in der Ukraine. Sie wieder funktionsfähig zu machen, könnte Russen, Amerikanern und Deutschen nutzen. Eine Lösung rückt näher.
Im größten Sabotage-Akte der jüngeren Kriminalgeschichte gibt es eine überraschende Wendung: Nachdem von offiziell unbekannten Tätern die Gaspipelines Nord Stream eins und zwei auf dem Grund der Ostsee im Spätsommer des Jahres 2022 teilweise zerstört wurden, könnten sie demnächst als Teil eines Nachkriegsplans zwischen Russland und den USA wieder repariert und in Betrieb genommen werden. Am Ende könnte durch die Röhren wieder Gas aus Russland nach Deutschland fließen – was wirtschaftlich gesehen für Russen, Amerikaner und Deutsche ein Vorteil wäre. Allerdings wäre das Ergebnis eines mit Pointe: Denn viele Spuren deuten darauf hin, dass es die US-Administration unter Joe Biden war, die bei der Zerstörung der Pipelines beteiligt gewesen ist.
Die Geschichte geht so: Der russische Außenminister Sergej Lawrow hat in der vergangenen Woche bestätigt, dass im Rahmen der Ukraine-Verhandlungen zwischen Wladimir Putins und Donald Trumps Gesandten auch über die Zukunft von Nord Stream gesprochen werde. Nord Stream, so hat er gesagt, werde zeigen, wie groß der Einfluss Trumps in Europa ist. Und er fügte hinzu, dass Moskau Interesse an einer „normalen Energieversorgung“ Europas habe.
Warum? Lawrows und Moskaus Grund für das Interesse wird mit Blick auf das Ergebnis des staatlichen russischen Gaskonzerns Gazprom deutlich. Er meldete jüngst einen Verlust von 1,08 Billionen Rubel (11,5 Milliarden Euro) für das Jahr 2024. Die Erdgasexporte aus Russland sanken von 206,8 Milliarden Kubikmeter im Jahr 2021 auf 119 Milliarden Kubikmeter im Jahr 2024, während die Exporterlöse von rund 53,3 Milliarden Euro auf weniger als 40 Milliarden Euro sanken. Russland hat also ein finanzielles Motiv, seine Pipeline-Exporte wieder aufzunehmen.
Aus deutscher und EU-Sicht mag das zwar angesichts von Krieg und Sanktionen unerhört klingen. Grüne und auch die Deutsche Umwelthilfe als klagefreudige Umwelt-NGO fordern den wahrscheinlich nächsten Kanzler Friedrich Merz auf, sich klar von allen Plänen, die eine Wiederaufnahme des Nord Stream-Projekts anpeilen, zu distanzieren. Doch die Lage ist in Wahrheit anders, als die meisten Politiker und NGO’s sie wahrhaben wollen.
Deutschland und Europa importieren Gas in steigenden Mengen aus Russland – nur kommt es nicht mehr in gasförmigen Zustand durch Pipelines der Gazprom, sondern landet in LNG-Tankschiffen als Flüssiggas von anderen russischen Anbieter an Europas Häfen. Gas unterliegt nicht wie Kohle und Öl den EU-Sanktionen gegenüber Russland. Eine Schlüsselrolle bei der Versorgung spielen dabei die Gashändler von Sefe, einem verstaatlichten deutschen Unternehmen, das an die Stelle der ehemaligen Gazprom-Tochter Gazprom Germania getreten ist. Sefe importierte 2024 mehr als sechsmal so viel russisches Flüssigerdgas (LNG) in die EU wie 2023. Allein für russisches LNG haben die Europäer im Jahr 2024 mehr als sieben Milliarden Euro bezahlt, geht aus einem Report des unabhängigen Thinktanks Energy Economics and Financial Analysis (IEEFA) hervor. Nach Angaben des Rohstoffanalyseunternehmens Kpler erreichten 5,66 Milliarden Kubikmeter Flüssiggas über Sefe die EU. Der hauptsächliche Ankunftsort war das französische Terminal in Dünkirchen. Gas aus Russland ist also alles andere als ein Tabuthema – weswegen es für eine Nach-Ukraine-Kriegsordnung schon jetzt eine Rolle spielt.
Einige Politiker wissen das und reden offen darüber, dass statt des teuren Flüssiggases ja auch wieder günstigeres Gas durch reparierte Nord Stream-Stränge fließen könnte. Thomas Bareiß, CDU-Bundestagsabgeordneter aus Baden-Württemberg, zeigt sich in einem LinkedIn-Beitrag offen für eine „US-amerikanische Kontrolle“ über Nord Stream 2 – allerdings erst nach einem Ende des Ukrainekriegs. Ähnlich äußerte sich Jan Heinisch, Vize-Fraktionschef der CDU in Nordrhein-Westfalen: „Wenn eines Tages ein gerechter und sicherer Frieden gefunden ist, muss man wieder über den Kauf russischen Gases sprechen dürfen.“ Russland sei schließlich „ein möglicher Lieferant unter mehreren auf der Welt“, so Heinisch weiter. Friedrich Merz hat sich bisher nicht direkt zur Nutzung von Nord Stream 2 durch US-Unternehmen geäußert. Auf eine Anfrage der Berliner Zeitung erklärt die Bundes-CDU, dass Spekulationen über eine Wiedereröffnung der Pipeline lediglich Einzelmeinungen widerspiegeln und nicht die offizielle Position der Partei darstellen würden. „Es bleibt unsere feste Überzeugung, dass Deutschland und Europa von russischen Gaslieferungen unabhängig werden muss“, so ein CDU-Sprecher, der damit aber die oben beschriebene Realität ein Stück weit ausblendet.

Wie die Realität am Ende aussehen könnte, beschreibt der russische, im Exil lebende Wirtschaftswissenschaftler Vladislav Inozemtsev in einem Beitrag, der ebenfalls zuerst in der Berliner Zeitung erschienen ist. Er ist Mitbegründer des Center for Analysis and Strategies in Europe, einer in Zypern ansässigen Denkfabrik: „Der einfachste Weg wäre, einen Anteil an der Nord-Stream-Betreibergesellschaft an ein US-amerikanisches oder Offshore-Unternehmen zu verkaufen und die durch die Explosionen von 2022 verursachten Schäden zu beheben.“ Die Reparaturkosten schätzt Inozemtsev auf vergleichsweise überschaubare 600 Millionen Euro. Im nächsten Schritt müssten die russischen Behörden vermutlich die Gesetzgebung aufheben, die Gazprom ein Monopol für Pipeline-Gasexporte gewährt. Sie könnten diese Rechte alternativ auf Joint Ventures zwischen Gazprom und ausländischen Unternehmen ausweiten. Nach Inkrafttreten dieser Änderungen könnten US-Investoren Gas in Russland kaufen. Danach könnten sie es als amerikanisches Gas nach Europa pumpen.
Ein solcher Deal würde „für alle von Vorteil sein“: Die USA würden einen Teil der Preisdifferenz zwischen den Kosten für russisches Pipelinegas und dem für US-LNG einstreichen. Die Russen würden ihre Exporte nach Europa wieder aufnehmen und so ihre Produktion steigern. Die Europäer würden billigeres Gas erhalten und so den angeschlagenen Industrien, die mit hohen Energiepreisen zu kämpfen haben, einen Rettungsanker bieten, schreibt der russische Exil-Wissenschaftler.
Bislang ist das ein Planspiel. Es gibt Hürden: Politisch würde eine Merz-Regierung, die offiziell amerikanisches Gas aus Russland nach Deutschland durchlässt, bis auf Weiteres ein Image-Problem bekommen. Merz hat allerdings bereits gezeigt, dass ihm so etwas egal ist, wenn es den von ihm definierten Interessen des Landes nützen könnte. Eine Hürde ist auch die Bundesnetzagentur, die solchen Gaslieferungen ausdrücklich zustimmen müsste, weil sie es ist, die entscheidet, ob und unter welchen Bedingungen Gasleitungen überhaupt genutzt werden dürfen. Allerdings ist auch die Netzagentur nur eine weisungsabhängige Behörde, die zuletzt von Robert Habeck als Wirtschaftsminister mitgesteuert wurde. Keine Hürde sind die bereits gebauten LNG-Terminals, die dafür da sein sollen, die Versorgung Deutschlands mit Flüssiggas zu sichern. Der Betrieb der einst mit „Deutschlandgeschwindigkeit“ hochgezogenen Terminals ist, wie der in Stade, gerade gestoppt, weil der staatliche Betreiber sich mit der Hanseatic Energy Hub uneinig ist, wer beim Bau was nicht richtig gemacht hat. Das ist aber nicht schlimm, weil schon die bestehende LNG-Import-Infrastruktur nicht ausgelastet ist. Am meisten importiert Deutschland immer noch Pipelinegas, das vor allem aus Norwegen kommt.
Eine Entscheidung über die Zukunft von Nord Stream ist bis zum 9. Mai wichtig. Dann nämlich endet definitiv die Nachlassstundung für die insolvente Betreibergesellschaft der Pipeline, die im schweizerischen Kanton Zug sitzt. Das Gericht dort hat eine entsprechende Frist gesetzt. Die Betreibergesellschaft sitzt auf hohen Schulden und hat fast alle Mitarbeiter entlassen. Das Gericht in Zug gewährte eine mehrmals verlängerte Nachlassstundung, um einen Konkurs abzuwenden. Wenn er kommt, ist ungewiss, wer am Ende auf die auf dem Meeresgrund liegenden Gasröhren zugreifen darf.
Unterm Strich: Die Zeit spielt all denen in die Hände, die mit russischem Gas, das unter US-Beteiligung Westeuropa erreichen soll, verdienen wollen. Und das sind eigentlich alle Beteiligten.