Productivity & New Work Diese Übergriffe ins unternehmerische Handeln und persönliche Leben müssen aufhören!

Diese Übergriffe ins unternehmerische Handeln und persönliche Leben müssen aufhören!

Ulrich Flatken und Christian Vietmeyer sind Unternehmer, die nebenbei auch noch den Verband der Metallverarbeiter und Maschinenbauer (WSM) in Deutschland als Präsident und Geschäfsführer leiten. Die Branche ist der Kern vom Kern der deutschen Industrie. Sie finden den Europawahlkampf zum Einschlafen. Ihre Themen kommen nicht vor. Dabei haben sie irre Beispiele dafür, was alles schiefläuft.
Das Gespräch führte Oliver Stock.

Sie haben geschrieben, dass sie den Europawahlkampf so müde finden, erzählen Sie mal: Was vermissen Sie?
Ulrich Flatken: Mir würde am Herzen liegen, dass wir uns dazu bekennen, was uns ausmacht: nämlich der industrielle, verarbeitende Mittelstand. Aber ich vermisse Statements dazu, es gibt keine Aussage, niemand sagt etwas.

Industrieller Mittelstand – klingt gewaltig und ein bisschen abgehoben, was ist das?
Flatken: Ja, da geht es schon los. Die EU benutzt immer dieses unsägliche Wort von den KMU, den kleinen und mittleren Unternehmen. Wir reden in unserem Verband über Unternehmen, die ganz häufig seit Generationen von einer Familie geführt werden und vielleicht 100 bis 2000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben. Es geht um echte Industrie in der Hand von Familienunternehmern. Wer bei uns dabei ist, stellt oft Produkte aus Stahl her für alle möglichen Dinge wie Autos und Windräder.  Wir haben ein Spezialknowhow im Umgang mit großen Maschinen. Meine Firma zum Beispiel macht Verbindungselemente aus Stahl, Griffbefestigung von Feuerlöschern, wir sind stark im PKW-Bereich. Wir sind relativ klassisch, hochspezialisiert und in einer Marktnische unterwegs. Weil uns das niemand so schnell nachmacht, ist das für Deutschland der Rettungsanker in der Globalisierung. Die Unternehmerfamilien sind am Standort des Unternehmens tief verwurzelt. Sie sind über Generationen mit den Konsequenzen ihres Tuns befasst. Wir hauen nicht ab.

Und sie fühlen sich nun von der Politik missachtet?
Christian Vietmeyer: Wir sind die, die den Laden am Laufen halten. Das, was Politik realisieren will, muss verdient werden – und das machen wir. Bei uns wird gut bezahlt. Bei uns redet keiner über Mindestlohn. Es gibt keine Mitarbeiter, die nur Mindestlohn kriegen. Aber natürlich ist es publikumswirksamer, sich um die Großen zu kümmern. Dabei repräsentieren wir 5000 Unternehmen mit insgesamt einer halben Millionen Mitarbeiter. Wir haben mehrmals den Minister und seinen Staatssekretär eingeladen, bei uns vorbeizuschauen. Gekommen ist kaum einer. Ihr könnt uns ja in Berlin besuchen, hieß es.

Wenn Sie ein Plakat zur Europawahl entwerfen könnten – was müsste auf Plakat stehen?
Flatken: „Industriepolitik statt Green Deal“. Denn der Green Deal geht ohne die Industrie nicht. Die Amerikaner haben eine Industriepolitik aufgesetzt, die aggressiver ist. Die Chinesen sowieso. Hier wird alles kleinteilig geregelt und mit Verboten versehen. Man mischt sich tief in wirtschaftliche Abläufe ein. Das scheitert. Die EU braucht eine echte Industriepolitik, die nicht irgendwo eine Chipfabrik fördert, sondern den industriellen Backbone: den Mittelstand.  Was sie stattdessen macht, ist ein Bürokratiewahnsinn. Dokumentationspflichten ohne Ende belasten uns. Im Mittelstand haben wir gar nicht die Ressourcen dafür. Ich würde es ja trotzdem machen, wenn ich den Eindruck hätte, es bringt was. Aber was bitte bringt es dem Klimaschutz, wenn ich Dutzende von Papieren beschreibe?
Vietmeyer: Uns nervt es total, dass wir uns nicht um unsere Kunden und Produkte kümmern können, sondern um Verwaltungskram, von dem wir nicht glauben, dass er einen Nutzen erzielt. Es werden nur die gleichen Produkte woanders und unter schlechteren Bedingungen produziert wird. Diese Belastung wird nirgends von den Politikern angesprochen. In der Summe ist das aber verdammt viel geworden.

Haben Sie ein Beispiel?
Vietmeyer: Wenn wir ein Stück Stahl aus einem Drittland kaufen, müssen wir ein Klimazoll-Reporting machen. Wir müssen die direkten und indirekte Emissionen dieses Stückchen Stahls dokumentieren. Carbon-Border-Mechanismus oder Europäisches CO2-Grenzausgleichssystem heißt der Fachbegriff dafür. Wir nennen es Klimazoll oder besser: Prohibition. Denn letztlich geht es um Verbote. Da werden Begrifflichkeiten erfunden wie Enabling Industrie. Das ist reiner Dirigismus.

Was ist das?
Vietmeyer: Wenn ich Scheibenwischer für Autos mit E-Motor mache, bin ich Enabler. Wenn ich die gleichen Teile für Autos mit Verbrennermotor mache, dann bin ich das nicht. Das hat aber wiederum Auswirkungen auf meine Kreditwürdigkeit. Wer braun ist, also kein Enabler, bekommt nicht so günstig Kredite von der Bank, wie jemand, der grün ist. 

Was müsste passieren?
Flatken: Es wäre schon gut, wenn die an sich vereinbarte „One in, one out-Reglung“ eingehalten würde. Also für jedes neue Gesetz, wird ein altes abgeschafft. Noch besser wäre: One in, two out“. Aber da gibt es keinen politischen Willen. Uns wäre schon geholfen, wenn eine Zeit lang Ruhe an der Gesetzgeberfront herrschte. 

Sie wünschen sich das, aber es passiert nicht. Ist Ihnen die EU zu undemokratisch?
Flatken: Sie werden kaum jemanden finden, der mehr von Europa überzeugt ist, als ich das bin. Wir haben in Deutschland enorm von der EU profitiert: Ich nenne nur den Euro und die Reisefreiheit. Aber diese Übergriffe ins unternehmerische Handeln und persönliche Leben müssen aufhören! Die CDU thematisiert das, aber sie geht nicht weit genug. Dabei müsste sie das machen, weil sonst die extremen politischen Ränder gestärkt werden. Von der Leyen ist da keine Ausnahme. Schon ihre Wahl fand ich mehr als überraschend. Man kann nicht Manfred Weber zum Spitzenkandidaten ausrufen, und, wenn es zum Schwur kommt, wird es jemand anders. Das war nicht gut.

Der Mittelstand müsste also mehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Ist ja klar, dass sie das fordern – aber es gibt eben auch noch andere Interessen . . .
Vietmeyer: . . . die soll es ja auch gern geben. Aber ich habe zum Beispiel jüngst eine Wahlkampfrunde im Fernsehen angeschaut. Da waren die Themen vorgegeben: Sicherheit und Ukraine, dann Nachhaltigkeit, dann Flüchtlinge. Ein Wirtschaftsthema kam nicht vor. Das geht doch nicht. Europa hat eine Wachstumsschwäche. Die Grundlage unseres Wohlstands geht verloren, und das fällt völlig untern Tisch.
Flatken: Wenn ich in die Wahlkampfprogramme reinschaue, gibt es bei CDU und FDP natürlich Vorschläge. Aber ich habe von keinem der Politiker im Wahlkampf darüber etwas gehört. Im Gegenteil: Als von der Leyen jetzt noch einmal kurz vor knapp einen Mittelstandsbeauftragten installieren wollte, und der schon unterschrieben hatte, ist er am Widerstand der anderen Kommissare gescheitert. Das zeigt mir, was alles nicht funktioniert.

Ist der maue Wahlkampf auch ein Zeichen für eine Schwäche der Medien?
Flatken: Die mediale Gesellschaft ist von woken Themen beeinflusst. Sie ist dadurch an vielen Stellen realitätsfern. Für meine Mitarbeiter und mich spielen andere Themen eine größere Rolle, als das, was die Medien interessiert. Im Click-Bating sind wir deswegen nicht sexy.

Wer soll jetzt auf den letzten Metern des Wahlkampfs noch etwas richten?
Vietmeyer: Eigentlich der Kanzler. Aber Olaf Scholz sagt nur, das Jammen ist des Kaufmanns-Lied. Und am Ende sei immer alles gut gegangen. Finanzkrise, Coronakrise – wir seien gestärkt daraus hervorgegangen. Ich nehme aber eine Nervosität in der Industrie wahr. Wir stehen vor einer Strukturkrise in Deutschland. Die letzten beiden Krisen waren exogene Schocks. Man kann mal ein schlechtes Quartal haben, aber diesmal sitzt es tiefer. Es wird anstrengender, sich aus dieser Krise wieder herauszuarbeiten. Es wird länger dauern. Das wissen viele CEOs. Uns kommt die Zuversicht gerade abhanden. Aber wer mit dem Bundeskanzler darüber reden will, läuft voll vor die Wand. Das darf nicht so weiter gehen.
Flatken: Wir haben kaum Wachstum in Deutschland. Wir haben Rückgänge in der Produktivität. Es wird in Deutschland nur noch verhalten investiert. Unsere großen Kunden wie die Autohersteller machen es uns vor und stimmen mit den Füßen ab. ZF verlagert die Stoßdämpferproduktion in die Türkei. So etwas ist eine bewusste Entscheidung außerhalb der EU zu sein. Das habe ich seit 30 Jahren nicht erlebt.

Wen sollen wir jetzt also wählen?
Flatken: Ich wähle nur das kleinste Übel von allen. Begeisterung kann ich nicht empfinden. Als Verband geben wir keine Empfehlung ab. Ich beobachte, was ein Emmanuel Macron macht. Er ist im eigenen Land und in Europa durchsetzungsstark, hat zum Beispiel eine Rentenreform gegen das Parlament durchgesetzt. Es geht derzeit viel Kapital nach Frankreich. Das kann ich verstehen.

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