Productivity & New Work Moral, Politik und Wirtschaft: Bremsen Regularien die deutsche Wirtschaft im internationalen Wettrennen unnötig aus? 

Moral, Politik und Wirtschaft: Bremsen Regularien die deutsche Wirtschaft im internationalen Wettrennen unnötig aus? 

Gastbeitrag von Michael Finkler, Geschäftsführer Business Development bei der proALPHA Gruppe.

Ein Plädoyer für mehr Selbstbestimmtheit, Pragmatismus und Digitalisierungspower. Ob Jan Böhmermann, Sascha Lobo oder Klaas Heufer-Umlauf – es scheint sich eine neue Klasse medialer Influencer mit Zeigefinger-Attitüde etabliert zu haben: Die Welt [1] beschreibt Böhmermann und Co. als schwergewichtige Moralverkäufer unserer Zeit, die der Politik und Gesellschaft zunehmend glaubt vorschreiben zu müssen, wie sie zu handeln hat. 

Was moralisch erwünscht ist, entscheidet im Grunde die Gesellschaft. Hierbei spielen auch die Moralvorstellungen von Influencern eine Rolle. Allerdings stellt sich hier die Frage: Ist die Wirkmacht meinungs- und reichweitenstarker Lautsprecher zu groß? Spiegeln sie die Vorstellung der Allgemeinheit wider? Und adaptieren Politik und Wirtschaft hier zu schnell und unreflektiert, um auf der moralisierenden Welle mitzusurfen? 

Ein Beispiel der Wirkmacht von Influencern ist die Absetzung des ehemaligen BSI-Chefs Arne Schönbohm durch Innenministerin Nancy Faeser, befeuert durch ein Enthüllungsstück von Jan Böhmermann [2]. 

Auch im Bereich der Regulatorik stellt sich die Frage, ob sich die Politik durch auf moralischem Feldzuge befindliche Influencer vor sich hertreiben lässt. Und welche Konsequenzen eine (möglicherweise) Überregulierung für die deutsche oder europäische Wirtschaft hat? 

Überregulierung schadet dem Wirtschaftsstandort Deutschland 

Ob KI-Kontrolle, Nachhaltigkeits-, Lieferkettenberichterstattungs- oder Arbeitszeiterfassungspflicht – die Wirtschaft scheint zumindest zunehmend in ein Korsett der Regulatorik geschnürt zu werden. 

Laut einer Deloitte-Befragung [3] sieht mehr als die Hälfte der Manager, die in einem Industrieunternehmen für die Lieferkette verantwortlich sind, die Attraktivität des Standorts Deutschland in Gefahr. 45 Prozent schätzen das Risiko einer Deindustrialisierung in Deutschland als hoch oder sehr hoch ein. Interessant: 51 Prozent sagen, dass die gestiegene Regulatorik wie das Lieferkettengesetz starke oder sehr starke Auswirkungen auf ihre Lieferkette hat. 

Klar ist, auch Unternehmen müssen und wollen sich an moralische Grundsätze halten. Dennoch muss erlaubt sein zu fragen, ob hier eine proaktive Selbstverpflichtung der Unternehmen im Sinne einer Ethics of Care [4] nicht zukunftsfähiger wäre. Oder hat die deutsche Wirtschaft gar ihre Glaubwürdigkeit verspielt? 

Mehr Selbstverpflichtung für Unternehmen? 

Einige aktuelle Beispiele zeigen das Gegenteil. So haben Unternehmen mit Beginn der Coronapandemie sehr schnell und umsichtig agiert, in dem sie ihre Mitarbeitenden – teilweise aus dem Nichts – sofort ins Home-Office geschickt haben. Oder als die Welle der Solidarität mit Beginn des russischen Angriffskriegs, umgehend öffentlich artikuliert, sehr große Unterstützung bei der überwiegenden Mehrheit der Unternehmen erfahren hat. 

Hinzu kommen Initiativen im unternehmerischen Tun für mehr Nachhaltigkeit und eine humanere Lieferkette. Klar, Green- und Social-Washing spielen in diesem Kontext auch eine Rolle. Dennoch sollte man zumindest debattieren, ob die moralische Selbstverpflichtung von Unternehmen nicht durch das tosende Trommeln der Regulierungswut, befeuerte Moralvorstellungen von Meinungsmachern und übertriebenen Aktionismus kein Gehör mehr findet – zumal Unternehmen hier häufig schneller agieren als die eher träge agierende Politik. 

Die Ökonomin Natacha Valla von der Science Po in Paris bricht in diesem Zusammenhang eine Lanze für die unternehmerische Freiheit [5], da Firmen immer einen Freiraum haben müssten, um sich weiterzuentwickeln. Es sei wichtig, genau diesen zu schützen. 

Sollte man der Wirtschaft nicht mehr Eigenverantwortung zutrauen? Weniger moralischer Imperativ und stattdessen mehr Fokus auf Pragmatismus? Ein Artikel der Süddeutsche Zeitung [6] zeigt auf Basis von aktuellen Studien, dass markorientierte Gesellschaften keineswegs per se unmoralisch sind – ein Narrativ, das sich seit Marx und Engels hartnäckig hält. 

Gut gemeint, aber auch gut gemacht? 

Die Kernfrage, die sich stellt, ist doch: Was sind die Auswirkungen eines immer enger werdenden Regelkorsetts? Was macht das insbesondere mit dem deutschen Mittelstand – vor allem im Hinblick auf dessen Konkurrenzfähigkeit gegenüber chinesischen oder US-amerikanischen Firmen? Werden hierzulande und in Europa Innovationen ohne Not ausgebremst? 

Beispiele für negative wirtschaftliche Auswirkungen eines zu engen Regelkorsetts gibt es einige. Wenn beim Tierschutzwohl die Regularien zu streng ausfallen, dann besteht die Gefahr, dass Unternehmen ihre Produktion ins Ausland verlagern, wo diese Regeln nicht gelten, und somit die Lebensmittelproduktion hierzulande und der Wirtschaftsstandort insgesamt geschwächt werden [7]. 

Auch sollten die Auswirkungen in anderen Ländern nicht unterschätzt werden. Ein Beispiel ist das Lieferkettengesetz, das in Deutschland bereits eingeführt wurde und auf europäischer Ebene derzeit verhandelt wird. Während in Deutschland bereits darüber diskutiert wird, wie das Gesetz handhabbarer gemacht werde kann, will die EU in ihrem Entwurf die Schwelle betroffener Unternehmen auf 500 Mitarbeitenden senken (statt wie in Deutschland bisher ab 3.000 Beschäftigte). Thilo Brodtmann, VDMA-Hauptgeschäftsführer [8] dazu: „Das wäre ein völlig falsches Signal, das dem Schutz von Kindern in Schwellen- und Entwicklungsländern nicht dient. Denn viele Unternehmen werden sich in der Konsequenz aus eben jenen Märkten zurückziehen, die wir eigentlich wirtschaftlich stärken sollen. Das gilt umso mehr, wenn die Idee umgesetzt würde, im europäischen Lieferkettengesetz auch noch eine Verpflichtung zur Kontrolle der Kunden festzuschreiben. Kein Maschinenlieferant kann seinen Kunden vorschreiben, wie und wo diese das gekaufte Gerät einsetzen. Ein so praxisfremd formuliertes Lieferkettengesetz wäre lediglich eine Steilvorlage für die Konkurrenz aus nichteuropäischen Ländern.“ 

Digitalisierung: Das richtige Maß und passende Initiativen 

Gerade bei der Digitalisierung sollte die Politik mehr auf die freien Kräfte des Marktes setzen. Initiativen im Bereich KI und Nachhaltigkeit greifen erst wirklich richtig, wenn sie von der Wirtschaft angestoßen und nicht durch die Politik verordnet werden. Dennoch gilt hier, wie bei den meisten Dingen im Leben – die richtige Balance führt zum Erfolg. Als soziale Marktwirtschaft benötigen wir zwar einen regulierenden Rahmen, allerdings sollte die Zukunftsfähigkeit nicht durch Überregulierung gefährdet werden. 

Aktuelle Initiativen wie Catena-, Gaia- und Manufacturing-X auf Basis des European Data Act, die sowohl von der Politik als auch der Wirtschaft vorangetrieben werden, zeigen, wie Unterstützung der 

Politik funktionieren kann. Hierbei sollen die Voraussetzungen für föderative und unternehmensweite Datenräume geschaffen werden – um beispielsweise die vor allem für den Mittelstand immer schwieriger zu leistenden Berichtspflichten einfach umsetzen zu können und durch Arbeiten in Ökosystemen die Wettbewerbsfähigkeit gesteigert werden kann und Daten in großem Umfang monetarisiert werden sollen. Hier profitiert die gesamte Wirtschaft und arbeitet im großen Stil mit. Im Gegensatz dazu könnte der diskutierte Industriestrompreis [Stand Oktober 2023] eher den großen Industrieakteuren helfen – der Mittelstand ginge dabei jedoch leer aus [9]. 

Die richtige Balance zwischen Technologie-Booster und notwendiger Regulierung bringt uns in die Position, schnell und flexibel agieren zu können. Nur mit einem gesunden Rekurs auf selbstverpflichtende und eigenverantwortliche Gestaltungskonzepte wird dies möglich sein und kann die deutsche beziehungsweise europäische Wirtschaft im weltweiten Wettrennen um die besten Plätze und Köpfe ihre Position behaupten und konkurrenzfähig bleiben. 

  • [1]  https://www.welt.de/kultur/plus245368818/Woker-Kapitalismus-Sie-sind-die-Verkaeufer-der- Moral.html?cid=socialmedia.whatsapp.shared.web
  • [2]  https://www.zdf.de/nachrichten/politik/faeser-schoenbohm-bundestag-cybersicherheit- 100.html
  • [3]  https://www.wiwo.de/erfolg/management/auf-ins-ausland-von-wegen-panikmache-die- gefahr-der-deindustrialisierung-in-drei-grafiken/29054580.html
  • [4]  https://dokumen.pub/its-not-just-pr-public-relations-in-society-second-edition- 9781118554005-1118554000.html
  • [5]  https://www.deutschlandfunk.de/wirtschaft-moral-lieferketten-fairer-handel-100.html
  • [6]  https://www.sueddeutsche.de/wissen/kapitalismus-moral-marktwirtschaft-oekonomie-
    ethische-werte-1.5702675?reduced=true
  • [7]  https://www.zeit.de/news/2023-04/28/warnung-vor-verlagerung-von-tierproduktion-ins-
    ausland
  • [8]  https://www.vdma.org/viewer/-/v2article/render/85870773
  • [9]  https://www.ndr.de/nachrichten/info/Industriestrompreis-Sinnvoll-oder-ueberteuerte-
    Subvention,faqindustriestrom100.html

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