Life & Style Mehr Bahn für alle – was dieser Slogan noch für eine Bedeutung hat

Mehr Bahn für alle – was dieser Slogan noch für eine Bedeutung hat

Neulich bei Sauwetter im Nachtzug von München nach Hamburg: der ICE wird zum willkommenen Dach über den Kopf für Menschen, die sonst kein Dach haben.

Der früheste Schnellzug von München nach Hamburg startet um 4.13 Uhr. Es könnte den Namen Obdachlosen-Express  tragen. Zumindest bis Augsburg. Das Wetter in München: Eine Mischung aus Regen und Schnee. Der April zeigt, was er draufhat. Ohne Dach über dem Kopf will in dieser frühmorgendlichen Stunde niemand sein. Rund 10.000 Menschen in der bayerischen Landeshauptstadt sind es trotzdem, wie die regierende SPD-Ratsfraktion gezählt hat. Die große Mehrheit, so schrieb die SPD im Winter, als es so richtig kalt war, komme zwar in Beherbergungsbetrieben oder Notunterkünften der Stadt unter. Aber eben nicht alle.

Da ist es für eine Handvoll von ihnen in dieser Stunde gut, dass die Bahn den Nachtzug diesmal ausnahmsweise früher bereitgestellt hat. Weiß steht er da, der ICE und reicht weit aus der Halle heraus. Mehr als 500 Meter misst der längste Bahnsteig des Kopfbahnhofs in München, genug für jede Menge Waggons, die alle geheizt sind und zu denen sich die Türen auf Knopfdruck öffnen lassen. Eine kleine Karawane von Menschen, die kein Dach über den Kopf haben, hat das in dieser Nacht herausgefunden und es sich auf den Sitzen, aber vor allem zwischen den Sitzen, dort wo sonst Gepäck steht, so bequem wie möglich gemacht. Warm ist es, Teppich liegt auf der Erde, zwar leuchten kurz vor Abfahrt die Lichter innen auf, aber welchen geschundenen Körper und manchmal eingenebelten Geist stört das schon.

Im dritten Wagen von vorn hat sich eine ältere Frau in Embryo-Stellung eingekugelt. Ihr Gepäck, ein Rollkoffer, zwei Stofftaschen und ebenso viele Plastiktüten hat sie hinter ihrem Rücken so zum Gang hin gestapelt, dass es aussieht wie eine Wagenburg. Sie ist dahinter unter ihrem Mantel kaum zu erkennen. Zusammengekauert. Die Schaffnerin kommt und spielt Routine: „Guten Morgen, die Fahrscheine bitte.“ Die Frau hat keinen. Aber sie ist plötzlich hellwach. Sie habe alles Geld und alle Papiere verloren. Oder sie seien gestohlen. Sie müsse nach Berlin, zur Polizeiwache am Alexanderplatz. Da kenne sie der Wachtmeister. Der könne helfen, der könne das alles bestätigen. Die Schaffnerin seufzt, greift nach ihrem Handy. Ob dies ihr erster Fall sei, heute morgen, frage ich sie. Sie macht eine Kopfbewegung in Richtung der vorderen Wagen. Ich deute es als ein Zeichen, dass sich da vorn noch weitere Schicksale dieser Art abspielen.

Als ich später offiziell bei der Bundespolizei nachfrage, wird recherchiert. „Nein, das sei keine Methode“, sagt ein Sprecher. Nein, das müssten Einzelfälle sein. Ich habe in dieser Nacht mindestens fünf gezählt, aber vielleicht habe ich mich ja verzählt. 

Zurück bei der zusammengekauerten Frau ertönt lautes Schnarchen hinter der Wagenburg. Mein Zug fährt heute Nacht über Augsburg, es ist der erste Halt nach München. Zwei äußerst stämmige Bundespolizisten in blauer Uniform steigen ein. Ihr Tonfall lässt keine Missverständnisse aufkommen: „Guten Morgen, die Fahrt ist hier für Sie zu Ende“, sagen sie. Die Frau ist erstaunlich schnell blitzwach, als wüsste sie, was jetzt kommt. Einer greift ihr unter rechten Arm, halb helfend, halb bestimmend. Der andere rafft ihr Gepäck zusammen, das ganze dauert nicht mehr als eine Minute, dann sind die drei raus aus dem ICE. Der Pfiff ertönt, und mit ihm setzt dieses Summen ein, das ankündigt, dass sich der lange Zug wieder in Bewegung setzt.

München- Augsburg, das dauert mit dem ICE eine halbe Stunde. Eine halbe Stunde Wärme, Bequemlichkeit und Geborgenheit verschanzt hinter allen Habseligkeiten, die sich schleppen lassen. Hat die Frau es genossen? Sie hat auf jeden Fall den aktuellen Slogan der Bahn sehr ernst genommen: „Mehr Bahn für alle“, heißt er. Hat es mich gestört? Nein, nicht wirklich. In Ulm stieg eine vierköpfige Familie zu. Es war noch nicht halb sechs. Der Tag hatte begonnen.

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