Innovation & Future Auweia: Temu weckt Wünsche, die es ohne Temu nicht gäbe

Auweia: Temu weckt Wünsche, die es ohne Temu nicht gäbe

Das Verbraucherschutzministerium hat sich in die Diskussion eingeschaltet, wie sich die erfolgreichen chinesischen Online-Händler hierzulande in die Schranken weisen lassen. Mit einem haarsträubenden Argument.

Christiane Rohleder ist eine erfolgreiche Juristin. Sie war einmal Landesbeauftragte für gleichgeschlechtliche Lebensweisen in Rheinland-Pfalz, bevor sie dort als Staatssekretärin ins Verbraucherschutzministerium wechselte. Inzwischen ist sie Staatssekretärin in Berlin. Jetzt hat sie sich an die Spitze einer Bewegung gestellt, die hierzulande gegen den chinesischen Onlinehandelsriesen Temu antritt. Sie wirft ihm vor, mit Spielen, Glücksrädern und ähnlichen Mikro-Interaktionen „unglaubliche Rabatte und Schnäppchen“ zu suggerieren. Die so gesetzten Kaufanreize würden beim vorrangig jungen Publikum vor allem neue Wünsche erwecken, anstatt tatsächlich bestehende Bedürfnisse zu decken. Eine derartige Manipulation der Kundschaft sei durch den jüngst in Kraft getretenen Digital Services Act innerhalb der EU unzulässig. Rohleder fordert die Regierung deswegen zur effektiven Durchsetzung des Gesetzes gegenüber Temu auf.

Jetzt lässt sich viel über Temu sagen und manches spekulieren. Das, was sich sicher feststellen lässt, ist, dass die Waren weder nachhaltig noch sonderlich funktionstüchtig sind. Nachhaltig sind sie schon deswegen nicht, weil sie um die halbe Welt gekarrt werden, bevor sie ihr Ziel erreichen, was allerdings inzwischen in Deutschland für zahlreiche Produkte insbesondere aus dem Textilbereich gilt. Auch der Verband der Spielwarenindustrie hat mal 19 Temu-Produkte für Kinder getestet und sie allesamt für gefährlich befunden. Von scharfen Kanten bis zu gefährlichen Inhaltsstoffen reichte die Mängelliste und Temu hat darauf die Produkte aus dem Angebot genommen. 

Ins Reich der – begründeten – Spekulation gehört Kritik an den Arbeitsbedingungen bei den Produzenten, deren Waren über Temu vertrieben werden. Undurchsichtig mögen auch die Bewertungsmechanismen für die Produkte sein. Und tatsächlich unfair ist es, wenn sich Online-Händler wie Otto oder Zalando an Regeln halten, die für Temu scheinbar Luft sind. Kürzlich platzte deswegen Otto-Bereichsvorstand Marc Opelt der Kragen: „E-Commerce-Anbieter, die tagtäglich Tausende Tonnen billigst produzierter Waren um den halben Globus fliegen, blenden Themen wie den Klimawandel oder den verantwortungsvollen Umgang mit Ressourcen scheinbar komplett aus. Das ist unverantwortlich und wird auf lange Sicht nicht funktionieren“, schimpfte er.

Die Kritik der Staatssekretärin allerdings ist eine Lachnummer: Den Vorwurf an Temu, „neue Wünsche zu wecken, anstatt bestehende Bedürfnisse zu decken“ müsste jeder Produzent, dessen Marketing etwas auf sich hält, als Kompliment auffassen. Denn es ist schlicht die Aufgabe jedes innovationsgetriebenen Konsumgüterherstellers, Wünsche zu wecken, von denen die Kunden bisher keine Ahnung hatten. Die Geschäftsmodelle von Bertha Benz bis Steve Jobs beruhten darauf.

Mit derlei dünner Argumentationen nährt Rohleder einen Verdacht. Er besteht darin, dass deutsche, europäische und selbst US-Wettbewerber im E-Commerce-Handel darüber überrascht bis entsetzt sind, mit welchem Einfallsreichtum und zu welchem Preis chinesische Händler ihre angestammten Märkte erobern. In ihrer Hilflosigkeit rufen sie nach dem Gesetzgeber, den sie ansonsten gerne wegen Bürokratie und Überregulierung verteufeln.

Die Juristin im Verbraucherschutzministerium sollte sich nicht vor diesen Karren spannen lassen, sondern deswegen die richtigen Argumente suchen. Dort, wo Temu und Co. nachweisbar gegen bestehendes Gesetz verstoßen, kann sie selbst dazu beitragen, den Online-Aufsteiger in seine Schranken zu verweisen. Bedürfnisse zu wecken, die es ohne ihn nicht gäbe, verbietet aber nicht einmal der Digital Service Act der EU in seiner ausgiebigen 300-Seiten-Fassung.

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