Innovation & Future Wie ein russischer Nomade Telegram an die Börse bringt

Wie ein russischer Nomade Telegram an die Börse bringt

Ironischerweise nutzt auch die russische Regierung die Dienste des Messengerdienstes, wie eine Verlautbarung 2015 verriet. Weltweit sind zahllose Behörden und Regierungen unter den Kunden, wissenschaftliche Forschungsinstitute und Akademien, was Durow zu der Erkenntnis brachte: Statt zu zensieren und einzuschränken, befähige man die Nutzer dazu, selbst die Echtheit und Wahrheit von Beiträgen zu prüfen und zu erkennen. Dazu genüge es, solchen international angesehenen Institutionen zu folgen und deren Einschätzungen zu Rate zu ziehen. Dennoch gehören die Regierungen und gesellschaftliche Organisationen westlicher Industrieländer offenbar eher zu den Kritikern der App, ansonsten sind es vorwiegend autoritäre Regime. Die größten Feinde der Wahrheitsfindung, so der Fake-Forscher Forrest Rogers in der Neuen Zürcher Zeitung, seien die immanente Eile und Schnelllebigkeit des Austauschs in den Sozialen Netzwerken. Dabei könne man doch in wenigen Schritten, wenn auch mit einem gewissen Zeitaufwand, selbst ermitteln, wie glaubwürdig Texte, Bilder oder Videos seien. Einer davon: „Wenn es zu abgedreht klingt, um wahr zu sein, ist es das wahrscheinlich auch nicht”, so Rogers. 

Die Kritik hat aber oft einen Punkt. Denn es dauert bei Telegram länger als bei der Konkurrenz, offen rechtswidrige Inhalte und deren Urheber auszusortieren. Darunter fällt vor allem Kinderpornographie, dann der Drogenhandel, wie das deutsche Bundeskriminalamt mit einer eigenen Ermittlungseinheit für Soziale Netzwerke feststellt. Dazu kommen vor allem amerikanische “White Supremacy”-Gruppierungen, also rassistische Organisationen von der Sorte einer “Arian Brotherhood”, Waffenfanatiker und Verschwörungshelden. Und in Deutschland schlagzeilenträchtig rechtsextreme Urheber, wie immer wieder erforscht und publiziert wird. Es gibt bislang allerdings keine belastbare Erhebung darüber, wie viele linksextremistische Gruppierungen sich Telegram zunutze machen – womöglich sind diese ebenso vorhanden, nur klüger in der Tarnung. 

Für Telegram spricht in den Augen des Gründers vor allem, dass es als Basis für oppositionelle Gruppen in diktatorisch beherrschten Staaten dient, deren Machthaber sich oft nicht anders zu helfen wissen, als das Netzwerk komplett zu blockieren. Die Liste jener, die das zeitweise oder für immer bereits anwenden, spricht für sich: Es sind unter anderem China, Iran, Indonesien und natürlich inzwischen – Russland

Ebenso will sich Telegram nicht als Zensor wissenschaftspolitischer Debatten betätigen. „Alle paar Jahrzehnte ändert sich die Sichtweise auf wichtige gesellschaftliche und wissenschaftliche Probleme drastisch. Was gestern noch eine lächerliche Idee war, kann heute die vorherrschende Meinung werden, um morgen schon wieder überholt zu sein.“ Die aktuelle Diskussion beispielsweise um die vergangenen Corona-Debatten und -Maßnahmen in Europa scheint dem widerborstigen Unternehmer Recht zu geben.

Pawel Durow sieht seine Strategie damit als überlegen an: „In den 20 Jahren, in denen ich Diskussionsplattformen verwalte, habe ich festgestellt, dass Verschwörungstheorien immer dann stärker werden, wenn ihr Inhalt von den Moderatoren entfernt wird. Anstatt falschen Ideen ein Ende zu setzen, macht es die Zensur oft schwieriger, sie zu bekämpfen. Deshalb wird die Verbreitung der Wahrheit immer eine effizientere Strategie sein als Zensur zu betreiben.“ Folgerichtig beschäftigt Telegram auch, verglichen mit anderen Plattformen, deutlich weniger Moderatoren, allerdings wird diese Zahl angesichts der Mitgliederzuwächse bald steigen müssen. Nur 50 Mitarbeiter zählt das Milliarden-Business bislang.

Und auch sonst dürfte sich Telegram in diesen Tagen stärker verändern als in all den Jahren zuvor. Denn Pawel Durow, inzwischen alleiniger Vorstandschef des Unternehmens, will Telegram an die Börse bringen – so sagten es zwei „Insider” der Financial Times. Und dort, auf dem Parkett von Wall Street, gelten eigene Erfolgsgesetze. Schon allein jener der Publizität. In einem der bislang eher seltenen Interviews sagte Durow, man strebe die Profitabilität des Unternehmens spätestens 2025 an, noch in diesem oder dem nächsten Jahr könnte ein Börsengang stattfinden; bestätigen will der Chef diesen Weg noch nicht – offenbar kommt auch ein Verkauf an Investoren in Frage. Analysten schätzen den Wert von Telegram auf derzeit 30 Milliarden Dollar, ungeachtet der fehlenden Rentabilität. Die will Durow erklärtermaßen mit Hilfe eingeführter oder kommender Premium-Funktionen erreichen. Schon jetzt machen zahlende Abonnenten einen Unterschied, dazu eingeblendete Werbung. Den demnächst stattfindenden Börsengang der Plattform Reddit, deutlich kleiner als Telegram, darf der Multimilliardär Durow als Gradmesser des Investoren-Interesses werten und analysieren. 

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