Productivity & New Work Cory Doctorow: „TikTok nutzt die Riesenteddy-Strategie“

Cory Doctorow: „TikTok nutzt die Riesenteddy-Strategie“

Herr Doctorow, welche Smartphone-App haben Sie zuletzt runtergeladen oder gelöscht?

Mir geht es wie den meisten Menschen: Wenn ich nicht muss, lade ich am liebsten gar nichts herunter. Oft wird man aber gezwungen, etwa weil nur per App bezahlt oder Inhalte eingesehen werden können. Mit viel Glück kann ich das Programm danach sofort wieder entfernen. Gerade bin ich viel unterwegs, da habe ich zuletzt den Tor-Browser installiert und eine App, mit der man Zeiten in den Pools von Hotels oder Fitnessclubs buchen kann, weil ich einen lädierten Rücken habe. 

Auf die Idee, Sie um dieses Gespräch zu bitten, kam ich durch Ihren Artikel „The ,En-shit-ti-fi-ca-tion‘ of TikTok“, der Anfang des Jahres im Magazin „Wired“ erschien. Ist TikTok mittlerweile shitty genug?

Ich muss zunächst einmal gestehen, kein häufiger Benutzer von Tiktok zu sein. Ich bin 51 und Vater einer 15-jährigen Tochter, also konsumiere ich die Inhalte der App wie jeder andere gute Gen-Xer: wenn jemand sie bei Twitter hochlädt.

Warum dann die Story?

Ich wollte an einem Beispiel erläutern, dass es bestimmte Gesetzmäßigkeiten in der Ökonomie digitaler Plattformen gibt, die sie schlussendlich zu Fall bringen. Das ist der Moment, in dem Unternehmen genau das meistbietend verkaufen, wofür sich die meisten Menschen ursprünglich einmal angemeldet haben. Wenn die Macher also die Bedürfnisse ihrer Werbekunden über die ihrer User stellen.

Wie sieht das konkret bei TikTok aus?

Selbst harte Kritiker werden einräumen, dass der Algorithmus der App irre gut darin ist, Ihnen eine endlose Reihe von Videos zu zeigen, die Ihnen Spaß macht. Wie eine Recherche von „Forbes“ herausfand, setzt TikTok nun jedoch planmäßig ein „heating tool“ ein, mit dem gezielt Videos in Feeds gepusht werden, die zur aktuellen Strategie passen. 

Die wäre?

Einigen Influencern oder Darstellern vorzugaukeln, sie wären echte Könner und hätten eine Geheimformel gefunden, weil ihre Inhalte plötzlich viral gehen. In Wahrheit aber hat man bei TikTok schlicht entschieden, dass nicht genug über Sport gequatscht wird – und dann einigen zufällig ausgewählten Sports Bros durch bevorzugtes Ausspielen zig Millionen von Views beschert. 

Was steckt noch dahinter?

Zunächst einmal feiern sich die Creators lautstark als absolute Experten und werden ihren Output steigern, natürlich exklusiv auf TikTok. Das zieht Nachahmer an und steigert die Begehrlichkeit. Ich nenne das „die Riesenteddy-Eröffnung“.

Nach den Plüschbären vom Jahrmarkt?

Genau. Auf jedem Rummelplatz gibt es eine Zone, wo man Lose kaufen oder Bälle irgendwo reinwerfen kann, um XXL-Stofftiere zu gewinnen. Die Chancen sind äußerst gering, und oft geht es auch nicht ganz mit rechten Dingen zu. Wie bekommt man trotzdem möglichst viele Besucher dazu, ihr Glück zu versuchen? Der Budenbesitzer lässt immer mal jemanden gewinnen oder tauscht dessen Trostpreise vermeintlich großzügig gegen einen gigantischen, blauen Bären ein. Und der wird dann als kostenlose Werbung durch die Gegend geschleppt. 

TikTok haut einen Viral-Teddy raus?

Ja, und nach einiger Zeit wird Phase zwei gezündet. Dann nämlich, wenn genug Videos zu Themen wie Fußball, Kitesurfen und Billard produziert wurden – und nun eher Astrologie im Fokus steht. Plötzlich sinken die Zuschauerzahlen der Sports Bros zugunsten irgendwelcher Horoskope oder Tarotkartenleger. Die Scham der Sports Bros wird später meist für die Profitsteigerung instrumentalisiert.

Ich wittere einen Upsell …

Soweit ich weiß, bietet Tiktok solche bezahlten „Booster“ noch nicht an – also das Bewerben der eigenen Clips und Beiträge. Aber wir kennen das natürlich von Facebook, Instagram und Twitter, und auch bei TikTok wird man wohl kaum auf Dauer Gratisteddys verteilen. Selbst bei Uber werden Fahrer mit ähnlichen Tricks erst abhängig von der App gemacht, gegen ihre Konkurrenten ausgespielt und schließlich mit stetig sinkenden Einnahmen abgespeist.

Das klingt deprimierend dystopisch.

Wichtig ist: Hinter den phänomenalen Erfolgen, desaströsen Misserfolgen, dem Hype und den Flops stehen in der Regel knallharte Geschäftsinteressen. Apps und Algorithmen sind eben keine mystischen Einflussmaschinen, die Ihrem Onkel aus Bayern ein Paar Filmschnipsel aus dem Dritten Reich zeigen, und er deshalb bei der nächsten Wahl prompt sein Kreuzchen bei der AfD macht. 

Wie sind wir denn jetzt hier gelandet?

Ich denke, es ist viel wahrscheinlicher, dass Ihr Onkel einfach ein Nazi war, der seine Ansichten für sich behielt, bis er auf rechtsgerichtete Youtube-Videos stieß und sich bestätigt und ermuntert fühlte. 

Genug von meinem hypothetischen braunen Onkel. Ganz unschuldig sind die Metas und Googles doch aber nicht, oder?

Nein. Ihre Plattformen können uns mit Engelszungen locken, uns erst für nebulöse Skills belohnen und später für angebliche Inkompetenz abstrafen. Während wir künstlich erzeugten Superprofis dabei zusehen müssen, wie ihre Communitys und Deals mit Marken wachsen, bis wir geradezu genötigt sind, uns das Gewinnergefühl zu kaufen. 

Wie tief auf der Abwärtsspirale befindet sich eigentlich Twitter derzeit?

Nun, Twitter nähert sich dem Abgrund erstaunlich rasch, würde ich sagen. Was dort sukzessive passieren könnte, hat die Medienwissenschaftlerin Danah Boyd in ihrer umfangreichen Forschung zu -MySpace aufgezeigt: Bringt eine Plattform ihren Usern keinen signifikanten Mehrwert, würden sie spätestens bei den ersten Anzeigen in ihrem Stream das Weite suchen. Es sei denn – und das ist das Perfide an Social Media –, sie halten einander als eine Art Geisel. Keiner will der Erste sein, der sein Profil löscht, also bleiben alle. Zumindest so lange, bis sich ein Kollektiv zum Gehen durchringt. Vielleicht weil alle ihre liebsten Popstars, Hollywoodschauspieler oder mit wem auch immer man eine parasoziale Beziehung pflegt, längst weg sind.

Sind Sie deshalb auch noch auf Twitter?

Na klar. Ich habe rund eine halbe Million Follower dort, also warte ich ab. Bis zu viele dieser Kontakte weg sind oder Elon Musk es dort so toxisch macht, dass die Nachteile, etwa für die geistige Gesundheit, den Nutzen bei Weitem übersteigen. Wobei er genau das wieder und wieder probiert. Musk ist in dieser Hinsicht wie Trump: Er könnte behutsam und langfristig eine Agenda skizzieren, stattdessen nimmt er den Buntstift in die geballte Faust und kritzelt wie wild auf dem ganzen Malblock herum. 

Dazu kindliche Wutausbrüche, Fehden mit Journalisten und bizarre PR-Aktionen …

Als Gegenwehr lese ich seit Jahren hauptsächlich die Tweets, in denen ich erwähnt oder etwas direkt gefragt werde. Manchmal suche ich auch nach meinem seltenen Namen. Bisher sah man auf diese Weise keine Werbung, jetzt tauchen trotzdem Anzeigen auf. Mal schauen, wer Musk zuerst vor den Bug schießt: die europäischen Regulierungsbehörden oder die Tesla-Aktionäre.

Dieser Text stammt aus unserer Ausgabe 03/23. Dieses Mal dreht sich in unserem Dossier alles um das Thema Danach. Wie geht es nach einem Fuck-Up oder Wendepunkt im Leben weiter? Außerdem haben wir mit Nationaltorhüterin Merle Frohms gesprochen und die Seriengründerin Marina Zubrod erzählt alles über ihre Hassliebe zum Unternehmertum. Viel Spaß beim Lesen! Hier gibt es das Magazin zum Bestellen.

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