Productivity & New Work Alexandra Zykunov: „Es wird noch 120 Jahre dauern, bis wir Gleichberechtigung haben“

Alexandra Zykunov: „Es wird noch 120 Jahre dauern, bis wir Gleichberechtigung haben“

„Frauen sind selbst Schuld, wenn sie keine Karriere machen.“ Bullshit. „Frauen stehen sich nur selbst im Weg.“ Bullshit. „Frauen müssen sich im Job ihrem männlichen Umfeld anpassen.“ Bullshit. „Männer müssen die Haupternährer der Familie sein.“ Bullshit. Bullshit. Bullshit. Es gibt viele solcher Floskeln, die voller Rollenklischees sind und immer noch unsere Lebensrealitäten formen. Bewusst, unbewusst, egal.

Autorin Alexandra Zykunov hat einige von ihnen in ihrem Buch „Wir sind doch alle längst gleichberechtigt“ – auch Bullshit übrigens – zusammengetragen.

Wir haben mit ihr gesprochen. Uns erzählt sie, zu welchem Problem solche Bullshitsätze führen, wie auch Männer von ihnen betroffen sind und wie wir sie kontern können.

Alexandra, welchen Bullshitsatz im Arbeitskontext kannst du nicht mehr hören?

„Frauen sollen doch verhandeln wie Männer“. Ich habe auch sehr lange geglaubt, dass Frauen irgendwelche Tricks anwenden müssen, etwa wie die Stimme beim Sprechen zu senken oder mal auf den Tisch zu hauen. Das wird seine Daseinsberechtigung haben. Als ich allerdings anfing, in diesem Bereich zu recherchieren, bin ich auf sehr viele Studien gestoßen, die zeigen, dass es egal ist, ob Frauen diese Tricks anwenden oder nicht.

Wieso?

Frauen werden bei Gehaltsverhandlungen von Beginn an finanziell niedriger eingestuft als Männer, weil viele Personaler:innen vom unconscious bias betroffen sind. Das ist eine unterbewusste Diskriminierung des Gegenübers aufgrund des Geschlechts. Frauen werden automatisch als weniger qualifiziert wahrgenommen, das belegen Studien, oder es wird direkt einkalkuliert, dass Frauen Kinder kriegen, in Elternzeit gehen, ausfallen und dafür eine Vertretung eingestellt werden muss – und zwar völlig unabhängig davon, ob diese Frauen überhaupt Kinder kriegen wollen oder können.

Und dann gibt es noch die role congruity theory. Die besagt, dass Frauen abgestraft werden, wenn sie sich nicht ihrem Geschlecht entsprechend verhalten. Das würde kein Mensch im Jahr 2022 zugeben, aber es ist für unser Gehirn unpassend, wenn eine Frau auf den Tisch haut, wenn eine Frau mehr Geld verlangt, wenn eine Frau typisch männlich auftritt. Dann schätzen wir sie unterbewusst als unsympathisch ein, finden ihr Verhalten dreist und unangemessen. Deswegen ist dieser Satz ‚Verhandle wie ein Mann‘ Bullshit, weil er das Gegenteil bewirkt.

Du hast ein ganzes Buch über Bullshit-Sätze geschrieben und es gibt wahnsinnig viele. Was findest du noch absurd?

Dass man Schwächlinge als „Pussy“ bezeichnet. Entschuldigung, aber eine Pussy bringt andere menschliche Wesen auf die Welt! Und Studien zeigen, dass manche Regelschmerzen von der Intensität her einem Herzinfarkt gleichen, aber offenbar trotzdem 40 Jahre lang jeden Monat ausgehalten werden. Wenn wir also schon bei dieser saloppen Sprache bleiben: Tritt man jemanden hingegen „in die Eier“, schreit die Person vor Schmerzen. Da ist Schicht im Schacht. Deswegen finde ich, haben „dicke Eier“ auch nicht unbedingt etwas mit Stärke zu tun. Aber es ist eben dieses typische Narrativ, das wir damit verbreiten – Männer sind stark, Frauen sind schwach.

Haben Frauen öfter mit Bullshitsätzen zu kämpfen als Männer?

Ja, haben sie auf jeden Fall. Im Hinblick auf Bullshitsätze bekommen aber auch Männer viel zu hören. Toxische Männlichkeit ist das andere Pendant. Deswegen profitieren Männer genauso vom Feminismus wie Frauen, wenn Rollenklischees abgeschafft werden. Der Financial Load und der Druck auf Männer in der Ernährerrolle zu sein, ist immens.

Es gibt Männer, die mir schreiben, dass sie in Elternzeit gehen wollen und Sprüche von ihren Chefs zu hören bekommen wie ‚Was willst du denn in Elternzeit? Deiner Frau die Titten halten, oder was?‘. Man muss aber auch dazu sagen, dass es natürlich nicht „den“ Mann oder „die Frau“ gibt. Um die Missstände deutlich zu machen, muss ich im Buch aber sehr binär von Mann und Frau sprechen, auch wenn es natürlich verschiedene Geschlechtsidentitäten gibt.

Zu welchen Problemen führen Bullshitsätze?

Sie manifestieren patriarchale Rollenklischees und Strukturen. Bullshitsätze werfen uns in den Errungenschaften des Feminismus wieder zurück. Sie nehmen uns die Freiheit, Dinge wirklich für uns zu entscheiden, tun aber so, als hätte ich mich als Frau wirklich freiwillig dafür entschieden – für die Teilzeitfallen, die schlecht bezahlten Jobs, die finanzielle Abhängigkeit. Stattdessen zwingen uns Bullshitsätze, Wege einzuschlagen, weil sie gesellschaftlich anerkannter sind, ungeachtet unserer eigentlichen Bedürfnisse und Vorstellungen.

Wie kann ich Bullshitsätze kontern, kannst du das an einem Beispiel erklären?

Schlagfertigkeit ist da gar nicht so einfach, weil das System sehr tief greift. Nehmen wir aber den Satz ‚Frauen wollen doch keine Karriere machen‘. Wenn das jemand sagt, kann man entgegnen: ‚Dann frag dich doch mal, warum das so ist?‘.

Denn das stimmt ja so nicht. Das System will nicht, dass wir Karriere machen: Wenn Frauen sich bewerben, werden sie nach der Kinderplanung gefragt, Frauen gehen länger in Elternzeit und arbeiten häufiger in Teilzeit. So werden sie zurückgestuft. Dann kann man sich wiederrum fragen, warum das so ist. Es gibt zum Beispiel wenig Führungspositionen, die in Teilzeit ausgeführt werden können. Dann kann man wieder fragen: Warum? Und so versteht man Schritt für Schritt die Problematik.

Was machen wir jetzt mit den Bullshitsätzen, wie gehen wir mit ihnen um?

Es ist nicht getan mit Ratschlägen. Das Problem ist das System. Einer der größten Hebel überhaupt ist die Anerkennung, dass Geschlechterdiskriminierung existiert. Der größte Zaubertrick des Patriarchats ist es, so zu tun, als würde es nicht existieren. Denn wenn etwas nicht da ist, kann man nicht dagegen ankämpfen. Deswegen muss man die Probleme, die das patriarchale System mit sich bringt, anerkennen.

Wir sind bei weitem noch nicht da, wo wir sein sollten. Es wird noch 120 Jahre dauern, bis wir Gleichberechtigung in Deutschland haben, zumindest in Bezug auf den Gender Pay Gap.

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