Leadership & Karriere Cartagena, Kolumbien: Der schönste Ort zum Scheitern

Cartagena, Kolumbien: Der schönste Ort zum Scheitern

Mit dem Restaurant Salt & Pepper im kolumbianischen Cartagena erfüllte sich Sonja Settele einen Traum – den die Coronapandemie komplett zerstörte. Die Geschichte einer Frau, die sich nicht unterkriegen lässt.

Text: Antonia Schäfer

Sonja Settele passte noch nie richtig hinein in die heile Heidiwelt. Nicht, dass sie die Kuhglocken, die Wiesen und Berge nicht liebte. Sie wollte nur wissen, wie es dahinter weitergeht.

Settele, Jahrgang 1985, wusste eigentlich schnell, dass sie nicht für das Leben mit Eigenheim, Bausparvertrag und Routine gemacht war. Und dennoch ging sie zunächst den bekannten Weg: Abitur, Studium, Diplomkauffrau. Sicheres Einkommen, Rentenversicherung, eigene Wohnung in der Nähe der Familie.

Bis es nicht mehr ging. Bis ihr die Vorstellung Horror bereitete, dass das alles gewesen sein soll. Bis sie alles verkaufte, das heimelige Alpenvorland hinter sich ließ, auf Weltreise ging. Sie reiste von Kanada bis Panama, verliebte sich in einen Kapitän, arbeitete fünf Jahre auf dem Segelschiff. Hin und her zwischen Panama und Kolumbien. Jahrelang. Bis auch das nicht mehr ging. Weil es eintönig war, weil es fremdbestimmt war.

Settele entscheidet: Sie will etwas Eigenes schaffen. Ein Restaurant in der kolumbianischen Küstenstadt Cartagena. In den Jahren auf dem Schiff war hier jede Reise geendet. Die Herzlichkeit der Menschen und die Gelassenheit der Küste hatten es ihr angetan.

Cartagena, muss man wissen, ist eine Karibikstadt voller Widersprüche: die touristische Altstadt, umgeben von einer historischen Stadtmauer, die heute dazu dient, die Armut aus dem Schmuckkästchen von Cartagena rauszuhalten. Drinnen: Scharen an Touristen, die die wunderschönen kolonialen Bauten bewundern. Draußen: Kinderprostitution, Drogen, die Schattenseiten der Stadt, die aber ebenfalls Menschen anlocken. „Die Polizei hält den inneren Ring frei von Bettlern“, sagt Settele. „Damit der Schein für die Touristen mit Geld nicht verloren geht.“

Immer wieder zweifelt Settele. Rechnet. Schreibt einen Businessplan. Kalkuliert die Risiken. Am Ende entscheidet der eine Satz: „Ich will das!“ 2020 eröffnet Settele mit ihrem Ersparten, einem Teil ihres Erbes und Zuschüssen ihres verrenteten Vaters ihr eigenes Restaurant in Cartagena. Ihr kleines Restaurant Salt & Pepper, fünf Tische drinnen, sechs draußen, ist jeden Abend voll. Fisch und Gemüse, frisch, aber nicht High Class – abgestimmt auf den müden europäischen Backpacker.

Ihr Restaurant eröffnet sie in Getsemani, einem alternativen Viertel. Jenseits der Altstadt, in der Designermode die Schaufenster dominiert und die Mieten unbezahlbar sind. „Für mich ist das künstlich“, sagt sie. „Das echte Cartagena liegt außerhalb der kolonialen Mauern.“

Ihre Nachbarn in Getsemani sind Einheimische, helfen bei der Eröffnung des Restaurants und kommen nach Ladenschluss auf ein Glas Wein vorbei. Settele fühlt sich wohl. Durch ihre Kontakte zum Segeltourismus hat sie jeden Tag Kunden, ihr Geschäftsmodell ist gut durchdacht. „Die ersten Wochen war ich wie im Rausch“, sagt Settele. Das Konzept geht auf trotz des riesigen Angebots an Restaurants und Bars in der Touristenstadt. Sie schien es in Cartagena geschafft zu haben.

Im März 2020 kommt der Lockdown, Setteles Restaurant muss nach nur einem Monat schließen. Das Gefühl: wie eine Beziehung, die mitten in der Verliebtheit zerbricht.

Doch der Lockdown in Kolumbien ist von Anfang an härter als in vielen anderen Ländern, mit Ausgangssperren und Geschäftsschließungen schon im März. „Erst hieß es, die Schließungen seien nur für ein Wochenende“, sagt Settele. „Ich hatte noch die Hoffnung, schnell wieder zu öffnen.“ Doch mit jedem zusätzlichen Tag, den das Restaurant geschlossen hatte, schwand die Hoffnung ein bisschen mehr.

Flucht aus Kolumbien

Zu der Geschäftsschließung kam die Ausgangssperre. Und Settele hört von Plünderungen und Einbrüchen im touristischen Sektor der Stadt. Ohne Touristen wurde aus der geteilten Stadt wieder eine ganze. Weniger Polizeikontrollen bedeuteten auch mehr Kriminalität in dem Teil der Stadt, der sonst den Reichen und den Besuchern vorbehalten war.

Nach ein paar Tagen bricht Settele die Ausgangssperre: Sie läuft zu ihrem Restaurant und verrammelt Fenster und Türen. Das bringt ihr einen kurzen Moment der Erleichterung. Doch in den nächsten Wochen zeichnet sich immer mehr ab, dass sie das Salt & Pepper nicht mehr öffnen würde. Im Mai wird es langsam eng: Lange kann sie die Miete nicht mehr zahlen. Ihr Vater schickt ihr Zuschüsse, doch seine Rente reicht kaum für ihn selber. Sie schämt sich, Geld von ihm anzunehmen, und spricht mit einem Anwalt. Er rät ihr, mit den Vermietern eine Mietminderung um 40 Prozent auszuhandeln – schließlich kann sie ihr Restaurant praktisch nur noch als Lagerraum nutzen. Ein weiterer kurzer Lichtblick.

„Meine Vermieter wollten nichts davon wissen“, sagt Settele. Viele Immobilienbesitzer in Cartagena nehmen lieber gar keine Miete ein, als sich auf eine Minderung einzulassen, beobachtet sie verwundert. „Sie haben Angst vor einem langfristigen Preisverfall“, sagt Settele. Gleichzeitig haben viele Investoren dort das nötige Kleingeld, um ihr Eigentum notfalls auch Jahre unvermietet zu lassen. Sie kündigt.

Ihr Vermieter gibt ihr fünf Tage Zeit, den Laden zu räumen. Das heißt: die Küche rausreißen, grundsanieren. Mitten in der Ausgangssperre. Mit der Hilfe von ein paar Leuten vor Ort schafft sie diesen Termin gerade so. Geräte und Möbel stellt sie in einem leer stehenden Hostel eines Bekannten unter. Sie versucht es kurzzeitig mit Lieferessen, doch ohne Erfolg.

Settele will nun nicht mehr in Cartagena bleiben. Alles hier fühlt sich nach Verlust an, außerdem vermisst sie ihren Freund, der in Panama einen Job angenommen hat. Sie will ausreisen, doch die Grenzen sind dicht. Keine Flüge, keine Schiffe, keine Reisemöglichkeit. Ein befreundeter Kapitän bekommt plötzlich eine Sondergenehmigung zur Ausreise – und Settele darf ihn als Crewmitglied begleiten.

Schon am nächsten Tag geht es los: Die Segel gehisst Richtung Panama, die Enttäuschung hinter sich lassen. Doch nach sieben Stunden werden sie mitten auf dem Meer eingekreist. Mindestens fünf Polizeiboote, sagt sie. Die Polizisten an Bord haben die Waffen auf die Crew gerichtet. Die Papiere seien ungültig, sie müssten zurück ans kolumbianische Festland. Zurück in Cartagena, bekommen sie nach Stunden des Wartens erneut grünes Licht zur Ausreise: Die Polizisten hätten sich geirrt. „Das Ganze war wie im Piratenfilm“, sagt Settele.

Radikales Bilanzziehen

Nach 30 Stunden kommt die Crew in Panama an. Settele bleibt bei ihrem Freund. Sie kommt zur Ruhe, beginnt aber gleichzeitig mit dem Grübeln. Tagelang verlässt sie das Haus nicht. Sie hat keinen Grund aufzustehen, sitzt teilweise vom Aufstehen bis zum Einschlafen vor dem Fernseher. „Mir wurde klar: Ich bin 35 und habe nichts“, sagt sie. Ihr Erspartes und ihr Teilerbe hatte sie in das Restaurant gesteckt. Eine Summe im Wert eines halben Einfamilienhauses. Dazu kamen die Schulden, die sie bei ihrem Vater gemacht hatte – und die Schuldgefühle deswegen. „Mein Vater hat mir in dieser Zeit immer wieder Geld geliehen, dabei ist er ja schon in Rente“, sagt Settele. „Ich habe also zum Teil auch sein Geld verloren. Das belastet.“

Als es wieder Flüge gibt, fliegt sie mit dem letzten Geld nach Hause. Zurück in das kleine Heimatdorf im Allgäu. Sie macht sich Sorgen, wie es weitergehen soll.

„Fail better“ gehört zur modernen Unternehmenskultur dazu. Für viele Gründer ist es schick, über ihre Niederlagen zu sprechen, wenn sie erst einmal erfolgreich sind. Diese Geschichten vom Scheitern werden Erzählungen und Anekdoten, die man bei einer Abendveranstaltung von sich gibt. Doch ein Mensch, der am Boden ist, redet nicht gern – auch heute nicht. Sonja Settele erzählt vom Mut, den sie brauchte, ihrem Traum zu folgen. Der bitteren Ernüchterung, als es nicht klappte. Der Unsicherheit, wie es jetzt weitergehen soll.

Ihr Vater sagt: Mach dir keinen Stress, ruh dich zu Hause aus.

Sie denkt: Ich will ihm nicht auf der Tasche liegen.

Ihre Freunde sagen: Es war nicht deine Schuld. Wie hättest du eine Pandemie voraussagen können?

Sie denkt: Vielleicht habe ich doch zu viel auf eine Karte gesetzt.

Nach ein paar Wochen zu Hause kommt die Ruhe zurück. Die Berge, der vertraute Umgebung, die Familie. „Ich konnte einfach irgendwann loslassen“, sagt sie. „Ich habe akzeptiert, dass ich es nicht wissen konnte und die Pandemie meine Pläne durchkreuzt hat.“

Die Unsicherheit bleibt zwar, aber sie hat eine Idee. Erst das Konto wieder füllen, mit dem Job als Diplomkauffrau. Und dann wieder los, es noch einmal probieren. Dann will sie noch mal von ihrem Scheitern erzählen. Vom Wiederaufstehen und „Fail better“. Wenn der Erfolg dann da ist.

Sonja Settele lebt nach den Abenteuern wieder im Heimatort.

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