Green & Sustainability Orsola de Castro: „Rana Plaza war ein Wendepunkt“

Orsola de Castro: „Rana Plaza war ein Wendepunkt“

Orsola de Castro ist Mitbegründerin von „Fashion Revolution“ und seit mehr als zwei Jahrzehnten Designerin und Meinungsführerin im Bereich der nachhaltigen Mode. Sie selbst bezeichnet sich als „recovering fashion designer“ und kritisiert schon lange die menschen- und umweltfeindlichen Praktiken der Fast Fashion Industrie.

Heute, am 11. Februar erscheint ihr erstes Buch „Loved Clothes Last“. Im Interview spricht die Modepionierin über das Buch im Speziellen und über die Herausforderungen der Branche im Allgemeinen. Außerdem: Ob sie jungen Menschen empfiehlt, noch immer Modedesigner*in zu werden. Spoiler: Sie tut es.

Business Punk: Zunächst einmal: Herzlichen Glückwunsch zu Ihrem neuen Buch. Heute ist der Launch – wie fühlen Sie sich?

Orsola de Castro: Es ist ziemlich aufregend, aber ich weiß überhaupt nicht, was ich erwarten soll. Das Interesse ist groß, mit so viel hatte ich nicht gerechnet. Jetzt hoffe ich natürlich, dass sich das auch in Buchverkäufen niederschlägt.

Wir drücken die Daumen. Der Titel Ihres Buches lautet „Loved Clothes Last – ein Ausdruck, den Sie schon früher in Präsentationen oder für Ihr Fanzine verwendet haben.

Ja, das ist richtig. „Loved Clothes Last“ ist ein Ausdruck, den ich verwende, seit ich Modedesignerin bin. Es ist, als ob diese Worte bereits seit etwa 20 Jahren in meinem Gehirn herumschwimmen.

Das Konzept davon ist, dass wir alle Teil der Lösung sein können, indem wir die Art und Weise, wie wir Kleidung einkaufen und behandeln, neu bewerten. Das Ziel sollte sein, die Langlebigkeit der Kleidung zu erhöhen.

Um die Dringlichkeit unserer Verhaltensänderung zu verstehen, muss man zunächst erkennen, dass das heutige Modesystem darauf ausgelegt ist, sowohl Menschen als auch den Planeten auszubeuten. Das Buch ist also in erster Linie ein „Warum“ und weniger ein „Wie“.

Wie kann ich also damit beginnen, meine eigene kleine Moderevolution zu starten?

Wachen Sie auf und werfen Sie einen wirklich guten Blick auf die Kleidung, die Sie haben. Wenn Sie eine organisierte Person sind, können Sie ihren Kleidungsstücken Kategorien geben. Fragen Sie sich, welche Stücke Sie viel tragen, welche weniger, welche repariert oder geändert werden müssen und welche weitergeben oder verkauft werden sollten. Wenn wir unsere Kleidung unter die Lupe nehmen, nehmen wir damit gleichzeitig das gesamte System unter die Lupe.

Es geht aber auch um zukünftige Entscheidungen: Wenn wir etwas kaufen wollen, dann sollten wir nicht nur nach der perfekten Größe suchen, sondern auch nach etwas, das zu unseren Prinzipien passt.

Wie kann das konkret aussehen?

Sagen wir, Sie suchen nach einem T-Shirt mit dem perfekten Gelbton. Dann sollten Sie nicht nur berücksichtigen, ob es ein helles oder ein dunkles Gelb ist, sondern auch die Chemikalien, die in diesem Gelb enthalten sind.

Es geht darum, die Auswirkungen der Modeindustrie und Ihrer Kleidung zu verstehen und sich mit diesen Informationen eine eigene, gut informierte Meinung zu bilden. Das ist die Revolution.

Wer sollte Ihr Buch lesen? Ist es eher für normale Bürger*innen geschrieben oder auch für Modedesigner*innen und politische Entscheidungsträger*innen?

Sowohl als auch. Mein Buch spricht alle Menschen an, die Kleidung tragen. Angefangen bei solchen, die einfach jeden Tag Kleidung tragen, weil man sich warm halten muss, bis zu anderen, die in der Modeindustrie arbeiten, zum Beispiel junge Designer*innen. Es ist für ein möglichst breites Publikum geschrieben, um dafür zu sorgen, dass alle von ihren Standpunkten aus Veränderungen vornehmen können.

Sie sind seit 1997 Modedesignerin, haben also tiefe Einblicke in eine Industrie gewonnen, in der sich die Kleidungsproduktion in den letzten 20 Jahren verdoppelt hat – mit Konsequenzen für Arbeiter*innen und die Umwelt. Wie sind wir hier gelandet?

Es war klar, dass wir hierher kommen würden. Denn das System des Kapitalismus ist auf exponentielles Wachstum ausgelegt und nicht auf exponentiellen Wohlstand.

Viele Menschen haben jedoch noch nicht verinnerlicht, wie schädlich dieses System wirklich ist. Ich denke, dass die Menschen sich dessen bei Lebensmitteln viel bewusster sind. Wir haben ein kulturelles Verständnis dafür, dass die Inhaltsstoffe unserer Lebensmittel sowohl den Boden, auf und in dem sie wachsen, als auch unsere Gesundheit und Körper beeinflussen. Diese Verbindung haben wir bei Kleidung noch nicht hergestellt.

Wir denken nicht daran, dass Kleidung aus Baumwolle besteht und Baumwolle eine Pflanze ist und somit auch einen Einfluss auf den Boden hat. Wir denken nicht daran, dass unsere Haut genauso wie unser Magen Chemikalien aufnehmen kann, was jedes Mal passiert, wenn wir etwas Neues tragen, das noch nicht gewaschen wurde. Und wir denken auch nicht daran, dass jedes Mal, wenn wir etwas waschen, die enthaltenen Chemikalien in die öffentlichen Wasserwege gelangen. Wir müssen eine Menge Zusammenhänge herstellen.

Sie haben 2013 nach der Rana Plaza-Katastrophe zusammen mit Carry Somers „Fashion Revolution gestartet. Wie kam es dazu?

Nun, ich war damals ja schon sehr lange in diesem Bereich tätig und in meinem Umfeld von Aktivist*innen und nachhaltigen Designer*innen ahnten wir bereits, dass so etwas passieren würde. Rana Plaza war also keine Überraschung. Aber es war das schlimmste „Ich hab’s ja gesagt!“ aller Zeiten. Es war vermeidbar, aber es wurde nicht verhindert – sehr frustrierend.

„Fashion Revolution“ fühlte sich dann wie ein logischer und folgerichtiger Schritt an, um Personen zusammenzubringen, die sowieso bereits in einer Art Bewegung für Veränderung im Austausch standen. Natürlich konnten wir nicht absehen, dass „Fashion Revolution“ so erfolgreich sein würde, das hat uns völlig überrascht.

Aber der Erfolg von „Fashion Revolution“ zeigt, dass die Zeit reif war, darüber zu sprechen. Leider – wie so oft – geschieht nichts, bis wir einen Wendepunkt erreichen. Und Rana Plaza war definitiv dieser Wendepunkt.

Was war Ihr bisher größter Erfolg, den Sie seit der Gründung von „Fashion Revolution erreicht haben?

Das ist schwer zu sagen, denn so viele der Projekte, die wir gemacht haben, waren so bahnbrechend und wegweisend, dass ich auf jedes einzelne stolz bin.

Um nur ein paar zu nennen: Ich bin wirklich stolz auf den Erfolg des Hashtags #WhoMadeMyClothes, der millionenfach genutzt wurde. Und auch auf #IMadeYourClothes, der die spontane Antwort darauf war.

Dann bin ich natürlich stolz auf unsere „Fanzines“, die für mich echte Kunstwerke sind. Und auf den der „Fashion Transparency Index“, der einen großen Beitrag zu mehr Transparenz in der Modebranche geleistet hat.

Woran arbeiten Sie gerade?

Derzeit arbeite ich am meisten an der „Fashion Open Studio“-Initiative. Dabei geht es darum, aufstrebende, nachhaltige Labels und Designer*innen zu fördern und in die Öffentlichkeit zu bringen. Dieses Projekt zeigt: Wir fordern nicht nur den Mainstream heraus, sondern setzen uns auch für die jungen Radikalen ein.

Wie sehen Sie die Rolle von Modedesigner*innen in der Zukunft? Würden Sie jungen Menschen heute noch empfehlen, Modedesigner*innen zu werden?

Natürlich, denn Modedesigner*innen entwerfen ja nicht nur Kollektionen, sondern auch Systeme. Ihr Job ist es, den Menschen zuzuhören und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Tatsächlich ist es für mich sogar ein brillanter Moment, Modedesigner*in zu werden, denn die Branche ist im Umbruch.

Es gibt noch viel zu tun, um die Reichweite des Mainstreams irgendwie zu verringern. Im Moment sind es etwa 40 Marken, die 97 Prozent des Marktes beherrschen. Aber mit einem wachsenden Verständnis für nachhaltige Praktiken und Innovationen werden aufstrebende Designer*innen, die nachhaltige Designs erfinden, stärker wahrgenommen werden.

Worauf freuen Sie sich 2021 besonders?

Auf jeden Fall auf die „Fashion Revolution Week“, die vom 19. bis 25. April 2021 stattfindet. Das ist immer sehr aufregend, mit vielen globalen Initiativen. Und dann natürlich auf den Launch meines Buches.

Viel Erfolg damit und danke für das Gespräch!

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