Leadership & Karriere Der Hotspot der Gen Z ist eine Dachgeschosswohung in Berlin

Der Hotspot der Gen Z ist eine Dachgeschosswohung in Berlin

Der Gründer

Anderes Zimmer, gleicher Ehrgeiz. Daniel Michailidis arbeitet und lebt im großen Gemeinschaftsraum der WG, der gleichzeitig Schlafzimmer und auch Headquarter seines Unternehmens ist. Im Mittelpunkt des Zimmers: eine Couch – nachts sein Schlafplatz, tagsüber der Workingspace.

Über der Couch ein Whiteboard, auf dem das Team-Brainstorming stattfindet. Oder auch mal ein Liegestützen-Battle. Hinter der Couch ein paar Tische, auf denen Macbooks und Post-its liegen.

An der Wand lehnt ein großes Gemälde, das von Michailidis selber stammt – inspiriert von der Kunst Leon Löwentrauts. Es sieht aus wie der Beweis, dass hier tatsächlich ein Ort der Verwirklichung ist.

Foto: NIKITA TERYOSHIN
Daniel Michailidis’ Stammplatz. Auch das Bild im Hintergrund stammt von ihm | Foto: NIKITA TERYOSHIN

Michailidis’ Zimmer ist Hauptschauplatz der Wohnung, aber an erster Stelle auch Headquarter von Fuego. Sein Büro in die Wohnung zu integrieren soll von Anfang an der Plan gewesen sein.

 Mit 17 entdeckte Michailidis die Startup-Welt für sich und kann heute von sich behaupten, Teil dieser zu sein.

Gemeinsam mit seinen Influencer-Freunden Lukas Rieger und Roman und Heiko Lochmann gründete er dann mit Anfang 20 die Challenge-App Fuego, die seit Anfang des Jahres auf dem Markt ist.

Das Ziel: die erste Social-Media-Plattform werden, über die Musiker*innen und Fans direkt und gemeinsam miteinander kommunizieren können – und zwar via Video. Erinnert an den chinesischen Giganten Tiktok, Fuegos Challenges unterscheiden sich jedoch von den beliebten Hashtag-Challenges.

„Bei uns geht es nicht darum, Influencer*innen zu folgen und Likes zu verteilen. Es geht mehr um die Aktion, die von Influencer*innen angestoßen und von der Community aufgenommen wird“, sagt Michailidis.

Die Challenges heißen bei Fuego „Movements“. Dabei handelt es sich um kurze Videoclips, mit denen die Nutzer*innen ihr Talent zeigen können – zu einer bestimmten Aufgabe und dem dazugehörigen Hashtag.

Seit dem Launch der App ist das Fuego-Netzwerk um einiges gewachsen. „Wenn es weiterhin so gut läuft, müssen wir schauen, ob wir unser Büro nicht doch verlagern“, sagt Michailidis.

Erst mal bleibt die WG in der Linienstraße jedoch ­Fuego-HQ-Hotspot. Aktuell zählt das Team zehn Leute.

Der Arbeitsalltag: Montag und Freitag Stand-up-Meeting, ansonsten keine festen Arbeitszeiten. Michailidis ist mit den meisten seiner Mitarbeiter*innen gut befreundet. Das Arbeiten findet auf Vertrauensbasis statt. Täglich geht das Team von Fuego hier ein und aus.

Auch die Co-Gründer Lukas Rieger und Roman und Heiko Lochmann kommen regelmäßig vorbei – zum Brainstormen, Netzwerken und Abhängen. „Die Influencer*innen kommen auch gerne zum Feiern. Dann kann es schon mal passieren, dass sie morgens um drei Uhr durch die Wohnung laufen, während Mona in ihrem Workingspace sitzt und noch arbeitet“, erzählt Michailidis.

Wenn die Influencer*innen aus anderen Heimatstädten anreisen, stehen sie meist schon morgens vor der Tür. Damit Michailidis und Co. nicht immer wieder geweckt werden, wollen sie jetzt einen Schlüsselkasten einrichten.

Während Feder und Tausch Nachwuchsgründer*innen und etablierte Unternehmer*innen in die Wohnung holen, sorgt Michailidis also für Reichweite und Unterhaltung.

Die Mischung aus den einzelnen Netzwerken macht aus der WG einen außergewöhnlichen Ort des Zusammenkommens. „Zwischen Influencer*in und Gründer*in tut sich nicht viel, das ist der gleiche Schlag Mensch. Beide brennen für ihre Sache“, sagt Michailidis.

Der Producer

Im vierten Zimmer wohnt Alex Oberschelp. Wobei er die meiste Zeit im Tonstudio neben der Wohnungstür verbringt. Dass er jetzt ein fester Teil der WG ist, hätte der Musiker vor ein paar Wochen noch nicht gedacht.

Als er im Sommer eine Woche in Berlin war, schrieb Michailidis ihn über Insta­gram an – dabei hatten sich die zwei davor noch nie gesehen. „Daniel hat interessant geschrieben. Ich hatte keine Ahnung, was mich erwartet. Aber schon am ersten Abend war der Vibe da. Am zweiten Abend haben wir dann entschieden, dass ich einziehe“, sagt Oberschelp.

Foto: NIKITA TERYOSHIN
Alex Oberschelp in seinem umgebauten Studio | Foto: NIKITA TERYOSHIN

Eigentlich wohnt der 23-Jährige in München. Sein Bruder und er machen als O’Bros gemeinsam Musik – und das nicht gerade erfolglos. Letztes Jahr gewannen die zwei den größten Bandcontest in Deutschland, bei dem jedes Jahr über 2.000 Bands aus allen Genres antreten.

Ihr Genre ist christlicher Hip-Hop, was als durchaus nischig zu bezeichnen ist. Denn außer O’Bros gibt es quasi keine Musiker*innen auf diesem Markt. „Unser Glaube ist Teil unserer Musik, den lassen wir in unsere Hip-Hop-Texte einfließen. Damit sprengen wir sämtliche Klischees von Kirchenmusik“, erklärt Oberschelp.

Ihre Musik klingt wie anderer deutscher Straßenrap auch, nur dass es laut ihm nicht „um Straßen, Drogen oder frauenverachtende Texte“ geht. Ihr größter Auftritt bislang: vor 12.000 Leuten.

Neben seinem Dasein als Musiker studiert Oberschelp noch BWL in München. Er ist nach Berlin gekommen, um seinen Horizont zu erweitern – und ist geblieben. „Ich kenne diese Menschen aus München nicht. Menschen, die so ticken wie ich, Träume haben und die Energie aufbringen, diese zu verfolgen“, so Oberschelp.

Kurz nach seinem Einzug zauberte er aus der Besenkammer ein Tonstudio. Darin produziert er jetzt die Musik der O’Bros, während sein Bruder in Tübingen sitzt. Die Entfernung scheint kein Problem zu sein: „Wir kommunizieren über eine Software. Wenn ich in Berlin einen Beat produziere, landet der direkt bei meinem Bruder, und er kann weiter daran arbeiten.“

Als Nächstes geplant hatten die O’Bros eine große Tour, die wegen der Coronakrise abgesagt werden musste. Gerade konzen­triert er sich darauf, alle Möglichkeiten zu nutzen, die das Leben in der WG bietet: „Hier vergeht nicht ein Tag, an dem sich nicht mindestens eine neue Opportunity ergibt. Ich weiß, hier werden sich noch hundert Türen öffnen, und ich habe die Wahl, durch welche ich gehe.“

Oberschelp beschreibt den bisherigen Alltag so: „Wir stehen in der Früh auf, machen Kaffee, arbeiten, chillen, arbeiten wieder und gehen dann noch Indoor-Surfen oder Golfen.“

Für den Studenten und Musiker fühlt sich dieser Alltag fast surreal an: „Ich bin kurz mal weg, komme wieder, und auf einmal sitzen hier milliardenschwere CEOs auf der Couch, und nebenan rauchen Influencer*innen, die Millionen Follower*innen haben, Shisha auf unserer Terrasse. Das ist krank.“

Platz für alle

Für die vier WG-Bewohner*innen verschwimmen in der Wohnung Arbeit und Lifestyle. Und das jeden Tag. Von einer typischen Work-Life-Balance kann man hier nicht gerade sprechen. Dabei ist doch genau das eigentlich das Ziel vieler junger Unternehmer*innen.

Tausch sieht das anders: „Wir sind eine Truppe, die genau dieses Verschwimmen so liebt. Wir können das nicht einfach trennen.“ Die Menschen, mit denen die vier tagtäglich arbeiten, seien nicht nur Kolleg*innen, sondern auch Freund*innen, deshalb würden Arbeit und Freizeit sich so leicht mischen, glaubt Oberschelp. Michailidis ergänzt: „Damit stehen wir aber nicht repräsentativ für unsere Generation. Ich glaube, wir sind eher die Ausnahme.“

Auch andere junge und etablierte Unternehmer*innen nutzen die außergewöhnliche Coworking- und Coliving-Situation der WG als Möglichkeit, um von neuen Arbeitsweisen zu profitieren. Maximilian Rellin zum Beispiel.

Foto: NIKITA TERYOSHIN

Er ist Anfang 20 und Gründer von Tellonym, einer App, die allein im Google-App-Store über zehn Millionen Mal heruntergeladen wurde. Rellin und Michailidis kennen sich schon lange, Tausch hat er beim Zocken in einem Onlinegame kennengelernt.

Seit die WG existiert, kommt er wöchentlich vorbei, um zu arbeiten und sich auszutauschen. „Meine Arbeit besteht hauptsächlich aus Kommunikation. Ich brauche immer wieder neuen Input. Das funktioniert hier besser als in einem trüben Office, wo ich nur die weiße Wand anstarre“, erzählt Rellin.

Mit Tellonym hat er sein eigenes Office in Berlin, trotzdem kommt er gerne zum Arbeiten in die WG. Der positive Effekt: Auch die WG-Bewohner*innen profitieren von Rellins Besuchen, wie Michailidis erzählt: „Es gibt Abende, da haut Maximilian abends eine These raus, über die wir dann bis sieben Uhr morgens diskutieren.“

Genau wie Rellin nutzt auch Rubin Lind den Hotspot in der Linienstraße für den beruflichen Austausch. Lind ist Gründer der Plattform Skills4School, die er letztes Jahr erfolgreich bei „Die Höhle der Löwen“ gepitcht hatte. Da war Lind gerade mal 19 Jahre alt.

Aus der Lernapp ist mittlerweile ein zweites Standbein gewachsen: Skills4Work – eine Lernsoftware für Unternehmen. Als erfolgreicher Junggründer hält Lind sich in demselben Dunstkreis auf wie Michailidis.

Den Fuego-Gründer hat er vor vier Jahren über die Initiative Startup Teens kennengelernt. Vor zwei Jahren hat Lind Michailidis und Tausch auf einer Veranstaltung miteinander vernetzt. Deshalb sagt Lind: „Ich bin der Grund, warum diese WG überhaupt existiert.“

Die Idee, selbst in die WG einzuziehen, ist Lind damals aber nicht gekommen. „Ich mag Berlin, aber nicht als festen Wohnsitz. Ich brauche ein ruhiges Arbeitsumfeld. Das habe ich in der Kleinstadt eher“, erklärt er.

Dennoch: WG-Besuche stehen regelmäßig auf seiner Timeline. Wenn nicht gerade zu viele andere Übernachtungsgäste da sind, schläft er in der Linienstraße. Er kommt hauptsächlich, um sich mit seinen Freund*innen über Strategien auszutauschen – projektunabhängig.

Foto: NIKITA TERYOSHIN

„Wenn uns abends bei einem Glas Wein auf der Terrasse Ideen kommen, dann diskutieren wir darüber und erhalten so viele verschiedene Perspektiven“, sagt Lind.

Für ihn ist diese Art von Coworking ein Konzept mit Aussicht: „Wenn man so eine WG mit der nötigen Struktur und Ausstattung hat, hat das viel Potenzial. Sowohl für junge Gründer*innen als auch für größere Unternehmen.“ Laut Lind soll dieses Konzept vor allem die Produktivität von Gründer*innen zwischen 20 und 40 steigern.

Für die Influencer*innen, die in der Linienstraße ein und aus gehen, hat die WG unterschiedliche Funktionen. Für die Musiker Roman und Heiko Lochmann ist die WG „eine Art Treffpunkt für Meetings und zum Netzwerken“.

Sie selbst bezeichnen sich als Stammgäste und finden die Wohnung „immer wieder inspirierend“. Vor allem wegen der Lage und des Objektes an sich kämen sie vorbei, nicht, um in erster Linie zu arbeiten.

Auch für andere Influencer*innen wie Lukas Rieger oder Faye Montana bedeutet die WG unter anderem Spaß und Entspannung. Heißt: rumhängen, Fußball spielen oder mit dem Skateboard durch die Bude fahren. Das funktioniert jedoch nicht immer.

Wenn Tausch gerade einen Interviewpartner*innen für eine Podcastaufnahme zu Besuch hat, bleiben die Influencer*innen erst mal draußen. Viel mehr feste Vereinbarungen gibt es jedoch nicht.

Auf die generelle Lautstärke muss die WG trotzdem achten. Hier und da kommen von den Nachbarn nämlich Nachrichten wie „Bitte dreht den Bass runter“ oder „Packt das Skateboard weg“. (Es gibt mittlerweile die Regel, dass nach drei Uhr nachts nicht mehr Skateboard gefahren oder Fußball gespielt wird.)

Dafür erfreuen sich die Nachbarskinder regelmäßig an den Videodrehs der Influencer*innen auf der Dachterrasse. Immer wieder kleben an den gegenüberliegenden Fenstern der Kinderzimmer Plakate und Grüße an die Influencer*innen.

Sein großes Netzwerk aus Influencer*innen hat Michailidis vor allem Jan Rode zu verdanken. Er ist etwas älter als der Rest, scheint sich jedoch in der WG sehr wohl zu fühlen.

Rode ist Unternehmer, Gründer und Künstlerbetreuer aus Hamburg. Er ist Profi in Sachen Social-Media-Vermarktung und Influencer-Management. „Jan ist sozusagen der Vater von Youtube. Er hat die ersten Youtuber*innen in Deutschland groß gemacht. Jeder in der Influencer-Szene kennt ihn“, so Michailidis über Rode.

Er habe dem Fuego-Gründer wichtige Kontakte zu Influencer*innen und Künstler*innen verschafft. Wenn Rode aus Hamburg nach Berlin kommt, steht ein Besuch in der WG ganz oben auf seiner Liste.

Der Hamburger sehe in der WG Parallelen zu seinem Netzwerk Tubeone aus den 2000ern. Schon damals hätten Künstler*innen oder Youtuber*innen einfach mal bei ihm im Studio übernachtet. Vielleicht machen genau diese nostalgischen Gedanken für Rode den Reiz der jungen WG aus.

Wenn man zurückblickt, haben auch schon immer Gemeinschaften von zusammengewürfelten Menschen neue Ideen in die Welt gebracht. Durch den täglichen Austausch miteinander und Durchlässigkeit und Offenheit.

Manchmal, wie die Kommune 1 vor über 50 Jahren, sind sie repräsentativ für eine Bewegung und für eine ganze Ära geworden. Ob sich in den kommenden Monaten die Gäste der WG in der Linienstraße für ähnliche Konzepte für Hamburg, Köln, München und Frankfurt inspirieren lassen? Oder ist dieser Ort mit den zwei Dachterrassen, auf denen im Sommer jeden Abend der Grill gestartet wurde, einmalig?

Zurück im Hausflur, vor der unscheinbaren Tür der WG. Musiker Alex Oberschelp verabschiedet sich in sein kleines Studio. Er blickt positiv nach vorn: „Man hat hier auf jeden Fall das Gefühl, Teil von etwas Relevantem zu sein. Allein, wenn man sich anschaut, welche Menschen sich hier täglich treffen.“

Und wenn man auf den Social-Kanälen sieht, wie viel Spaß diese Menschen und ihre Gäste haben, kann man sich vorstellen, dass die Idee Beine bekommt.

Freundinnen und Freunde, es ist wieder soweit: Unsere neue Ausgabe ist da. Und dieses Mal sogar mit zwei unterschiedlichen Covern. Oh yeah! Über 160 druckfrische Seiten mit den spannendsten Entwürfen zum Gründen und Leben: Wer steckt hinter Berlins ambitioniertester Gründer-WG? Und wie verbreitet die Factory Berlin ihr erfolgreiches Community-Konzept bald deutschlandweit? Außerdem: Wie der Kunstmarkt sich rapide verändert und sich die Modewelt weg von Fast Fashion bewegt. Also ab zum Kiosk oder zum Aboshop.

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