Leadership & Karriere E-Health-Startups: Wie smarte Geschäftsideen das Gesundheitswesen verbessern

E-Health-Startups: Wie smarte Geschäftsideen das Gesundheitswesen verbessern

Zwei als „Kultur- und Kreativpiloten Deutschland“ ausgezeichnete Unternehmen verhelfen Patienten-Blogger*innen durch bessere Vertragskonditionen zu mehr Zeit für ihre wichtige Aufklärungsarbeit – und bringen die Neuro-Rehabilitation mit Hilfe virtueller Realität auf ein neues Level.

Zuerst war es nur eine Anfrage: „Sag mal, Samira, du hast doch schon eine Kooperation mit einem Pharmaunternehmen gemacht – wie läuft das denn mit dem Vertrag?“ Ehrensache unter Patienten-Blogger*innen: Man hilft sich aus bei Fragen. Also gab Samira Mousa der Kollegin ein paar schnelle Tipps.

Seit Februar 2017 schreibt die heute 30-Jährige in ihrem Blog „chronisch fabelhaft“ über ihr Leben mit der Autoimmunkrankheit Multiple Sklerose (MS). Die chronische Entzündung des Nervensystems zeigt die unterschiedlichsten Symptome, die je nach Verlauf und Patient*in anders ausfallen, und ist nicht heilbar.

Bei Samira hatte es mit zeitweiligen Sehstörungen begonnen, 23 war sie damals. „Mit Medikamenten lässt sich das Fortschreiten von MS heute aber oft gut mildern, so dass Betroffene ein mehr oder weniger normales Leben führen können“, sagt Samira.

Damals, als die erste Frage zur Vertragsgestaltung kam, hatte sie gerade zum Welt-MS-Tag einen Film mit dem deutschen Konzern Merck veröffentlicht. „Meine erste große Kooperation“, erinnert sich Samira.

Mehrwert für alle Parteien

Mit der Zeit kamen immer mehr Kooperationsanfragen von namhaften Unternehmen aus der Healthcare-Branche. Genauso stapelten sich allerdings auch die Fragen und Hilferufe von Patienten-Blogger*innen in ihrem Mail-Postfach: „Was muss ich unbedingt in einen Vertrag schreiben? Ist diese Klausel ok? Wieviel Geld soll ich nehmen?“

„Bei dem großen Bedarf, meinen Kontakten und meinem beruflichen Hintergrund war es fast logisch, dass ich eine Agentur gründe, die Healthcare-Influencer berät und vermittelt“, sagt Samira, die vor ihrem Full-Time-Bloggerinnen-Leben in einer Agentur für Techno-DJs gearbeitet hat. Ein Job, bei dem sie auch Verträge gestalten musste.

Seit November letzten Jahres gibt es daher „Healthy Content. Sick Ideas.“ Mit ihrem als Kultur- und Kreativpilot 2019 ausgezeichneten Unternehmen sorgt Samira dafür, dass die Kooperationen der Healthcare-Influencer-Kolleg*innen geregelt ablaufen und für beide Parteien einen Mehrwert schaffen.

Gründerin Samira Mousa. Bild: Erik Schütz

„Meine Klient*innen – Menschen mit chronischen Krankheiten – sollen durch die Honorare, die sie mit ihren Blogs und Social-Media-Kanälen erzielen, weniger in ihren Hauptberufen arbeiten müssen – und so mehr stressfreie Zeit in ihre Aufklärungsarbeit stecken können“, sagt Samira.

Mittlerweile informierten sich die meisten Menschen mit neuer Diagnose online: „Ich finde es wichtig, dass sie dort auch ansprechende Blogs und Mut machende Geschichten von anderen Menschen finden, die gelernt haben, mit ihren Krankheiten zu leben. Mit ‚Healthy Content. Sick Ideas.‘ unterstütze ich ihre wichtige Arbeit.“

Samira entwickelt sogar ganze Influencer-Kampagnen für Marketing-Agenturen, die auf den Healthcare-Bereich spezialisiert sind. „Ich bin für den kreativen Part zuständig, die Partneragenturen für die Umsetzung der Konzepte“, so Samira. Eine für sie ideale Aufteilung, die ihr genug Raum lässt, weiter als digitale Nomadin zu leben: im Sommer in ihrer Heimatstadt Berlin, im Winter, da wo es ihr gefällt – und das WLAN stabil ist.

„Meine Work-Life-Balance ist mir wichtiger als Wachstum“, sagt Samira. Aber im Bildungsbereich wolle sie zusammen mit anderen Healthcare-Influencer*innen künftig mehr Aufklärungsarbeit machen – auch zum Thema Stressreduktion.

Und überhaupt: Influencer-Marketing im Healthcare-Bereich stecke in der Gesamtsicht noch in den Kinderschuhen. Sie schreibe gerade griffige Best-Cases, damit sich mehr Pharmaunternehmen an Kooperationen herantrauen.

Nach wenig Arbeit hört sich das nicht an. „Stimmt“, sagt Samira, „aber ich mache einfach so viel, wie ich gut schaffe. Das hat mich meine Krankheit gelehrt. Und das rate ich auch allen anderen.“

Auch Julian Specht wurde wie Samira durch die eigene Krankheit zum Gründer. Als er zehn Jahre alt war, entwickelte Julian eine Epilepsie. Die Krankheit wird durch Nervenzellen ausgelöst, die plötzlich gleichzeitig Impulse abfeuern. Manche Patienten verspüren dann nur ein leichtes Zucken und Kribbeln einzelner Muskeln, bei anderen kommt es zu unkontrollierten Krampfanfällen des ganzen Körpers und kurzer Bewusstlosigkeit.

VR und psychologische Lernstrategien

Bei Julian kam es zu drei bis vier solcher Krampfanfälle pro Tag. Über Jahre hinweg probierten seine Ärzt*innen alle Medikamente und Behandlungswege aus. Nichts half.

Erst nach zehn Jahren, Julian war damals 20 und studierte Wirtschaftspsychologie, bot sich plötzlich eine Chance zur Heilung: Die Mediziner*innen hatten das Gehirnareal identifizieren können, das die Anfälle auslöst. „Wir können Sie operieren, Herr Specht – aber es besteht das Risiko, dass sich ihre kognitiven Kapazitäten massiv verändern. Ihr Leben wäre dann zwar von den Anfällen befreit, aber sie könnten gegebenenfalls weder ihr Studium fortsetzen noch irgendeinen Beruf ergreifen.“

Julian sah das Risiko – aber auch eine Chance. „Welche Möglichkeiten habe ich, um die nach der OP verlorene kognitive Kapazität wiederzuerlangen?“, fragte er die Ärzt*innen. Es gäbe ein paar Übungen, da müsse man sich Zahlenfolgen oder Nummernschilder einprägen und danach mit Stift und Zettel notieren, sagten sie. Super sei das nicht, das wüssten sie, aber sie hätten leider nichts Besseres.

Er konnte es kaum glauben. „Trotzdem habe ich die Risiken in Kauf genommen – sonst hätte sich nichts geändert“, sagt Julian. Er hatte großes Glück: Die OP hätte nicht besser verlaufen können, die Anfälle stoppten wie auf Knopfdruck, es gab keinen Verlust von kognitiven Kapazitäten.

„Nach 14 Tagen bin ich schon wieder zur Uni gegangen“, sagt Julian. Wo er die Story nochmal mit seiner Studienkollegin Barbara besprach. Auch sie konnte nicht fassen, dass es keine besseren Methoden zur Neuro-Rehabilitation gab.

Allein in Deutschland leiden rund 4,5 Millionen Menschen an kognitiven Einschränkungen durch eine neurologische Erkrankung, die davon profitieren würden. Sie müssen zum Teil wieder lernen, alltäglichste Dinge selbstständig durchzuführen, etwa Schuhe binden oder ein Spiegelei zu braten. „Das muss man doch besser machen können“, sagten beide.

Aus diesem Gedanken ist die vielfach preisgekrönte und auch zum Kultur- und Kreativpiloten 2019 ausgezeichnete Living Brain GmbH entstanden: Barbaras und Julians neue Methode zur Neuro-Rehabilitation basiert auf virtueller Realität, kurz VR, und psychologischen Lernstrategien.

Das Living Brain-Team.

Patient*innen müssen hier nicht mehr lebensfremde Zahlen- und Buchstabenkolonnen lernen und auf Papier notieren – sie setzen sich einfach eine VR-Brille auf und trainieren alltagsnahe Situationen. Das kann beispielsweise der Einkauf in einem virtuellen Supermarkt sein oder die Pflege von Pflanzen in einem Gewächshaus.

„Die Patient*innen können die Übungen in der VR so oft wiederholen, bis sie sich wirklich sicher fühlen“, sagt Barbara. „So können sie das Gelernte besser auf das echte Leben übertragen.“

Die ersten Machbarkeitsstudien mit Uni-Kliniken zu ihrer Methode liefen bereits, sagt Julian. Was jetzt anstehe, seien eine umfangreiche klinische Evaluationund das CE-Zertifikat für Medizinprodukte. „Wir wollen unbedingt, dass es klinische Studien gibt, die belegen, dass das was wir hier tun, auch wirklich funktioniert. Ich weiß nämlich, was es bedeutet, wenn dir jemand sagt, mach mal diese Übung, die bringt zwar eigentlich kaum etwas, aber es ist besser als nichts zu tun.“

Und wenn die Studien noch Optimierungsbedarf zeigen, werden wir diese Punkte konsequent umsetzen, so Julian. Die Corona-Situation habe der Digitalisierung des Healthcare-Sektors gerade auf breiter Front Rückenwind gegeben: Videosprechstunden, E-Rezepte, wo möglich nach Hause verlagerte Therapien durch digitale Lösungen – es zeigt sich, dass vieles geht, was vorher für unmöglich gehalten wurde.

„Jetzt gilt es für alle zu zeigen, dass das Vertrauen gerechtfertigt ist und diesen Boost nicht zu verspielen. Für neue digitale Produkte wie auch unseres musst du daher nachweisbare Qualität verkaufen – nicht nur Hoffnung“, sagt Julian. „Das ist unsere Überzeugung.“

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