Leadership & Karriere Gründen in Zürich: Seriös, schick, sauteuer. Stimmt das überhaupt ?

Gründen in Zürich: Seriös, schick, sauteuer. Stimmt das überhaupt ?

Weniger cool geht nicht

Die Zürcherstraße, die aus dem Stadtzentrum nach Westen, immer parallel zur Limmat bis in den Vorort Schlieren führt, ist fürchterlich trostlos. Eine Ausfallstraße, ein Autohaus, ein Möbeldiscounter, eine Tankstelle. Keine Cafés mit sorgsam ausgesuchten Secondhand-Möbeln, keine Bio-Smoothies, keine hippen Restaurants mit Fusionfood. Dafür das Enjoy Schlieren, eine Art Kantine mit billigen Bistrotischen, Hähnchenschenkeln, Pastavariationen, Salatteller. Im rostbraunen, nicht weniger tristen Nachbargebäude befindet sich Insphero. Die Schreibtische stehen im Büro teilweise kreuz und quer, und an den Wänden hängen handgeschriebene Zettel, die zu verstehen geben: Hier gibt es noch kein business as usual, hier wird noch gewachsen und zwar kräftig. Andererseits kann man lange nach Kapuzenpullovern suchen, nach Tätowierten oder Kickertischen.

Jens Kelm, einer der Gründer von Insphero, trägt Anzughose und weißes Hemd, im Flur der Leitungsetage stehen Yuccapalmen. Weniger cool geht eigentlich gar nicht. Und je länger man mit Kelm durch die Stockwerke, die Firmengeschichte und die komplexen Prozesse von Insphero spaziert, desto stärker drängt sich eine Frage auf: Ist das hier überhaupt ein Startup?

„Aus der Startup-Phase sind wir gerade raus, würde ich sagen“, erklärt Kelm. Daran, dass die Firma bis vor Kurzem dazugehört hat, besteht für ihn kein Zweifel. Insphero hat an einer Reihe von szenetypischen Events teilgenommen und gleich bei mehreren davon Preise gewonnen. Es konnte dank Seedfunding und Venturecapital zügig wachsen. Und die Firma habe – das allerdings weniger szene­typisch – von Tag eins an schwarze Zahlen geschrieben, betont Kelm stolz. Überhaupt sei die gesamte relevante Startup-Philosophie von Management bis Wachstum sehr wichtig gewesen. 
Der große Unterschied aber ist: Insphero bastelt an keinem sozialen Experiment, keinem Kommunikationsspielzeug und keinem Geschäftsmodell, das aus der alten in die digitale Welt umgezogen werden soll. Sondern arbeitet in einer sehr spezifischen Nische der Medizin- und Pharmatechnik, nämlich an sogenannter 3D-Microtissue-Technologie, die großen Pharmaunternehmen hilft, neue Medikamente unter anderem für die Leber oder die Bauchspeicheldrüse, aber auch für Krebszellen an deutlich realistischeren Zellkulturen zu testen. Anders gesagt: Durch die Zellkulturen von Insphero sparen sich große Pharmaunternehmen, von denen es in der Schweiz ja gleich ein halbes Dutzend gibt, Entwicklungskosten. Ist das cool? Ja, aber halt nicht Nerds-in-Schlabberhosen-cool.

Jens Kelm InSphero AG Wagistrasse 27 8952 Schlieren Switzerland
Anne Gabriel-Juergens

Zürichs Startups profitieren vom engen Draht zu den Universitäten, die Gründern extrem professionelle Unterstützung bieten. Darum findet man in dieser sauberen, hübschen Stadt vor allem junge Firmen, die ihren Fokus auf Branchen legen, in denen die Schweiz ohnehin gut ist. Seltener sind da echte Spinner.

Die Spinner machen in Kunst

Zürichs wilder Westen / Zürich-West
Anne Gabriel-Juergens

Doch, klar gibt es in Zürich auch ein paar Gründer mit verquereren Ideen. Zum Beispiel Timo Hahn und Matthias Dörner, die ein Tinder für den Kunstmarkt namens Wydr erfunden haben. Kennengelernt haben sich Hahn und Dörner während eines Masterprogramms an der Universität St. Gallen. Auf das Konzept, an dem sie nun arbeiten, kamen sie tatsächlich in einem Seminar, in dem Geschäftsideen ersponnen werden sollten. „Von über 300 Ideen blieb am Ende diese eine übrig“, sagt Hahn. Natürlich, die Nähe zur Art Basel, der wohl wichtigsten Kunstmesse der Welt, und das in der Schweiz ohnehin traditionell starke Geschäft mit der Kunst halfen. „Aber eigentlich ist die Schweiz für uns als Standort gar nicht so wichtig“, sagt Dörner.

Man kann sich Wydr als eine Art Etsy für den Kunstmarkt vorstellen: eine Plattform, auf der Künstler ihre Werke ein- und einem interessierten Publikum vorstellen. Mit der klitzekleinen Einschränkung, dass man auch Kunst für 600, 1 000 oder 2 500 Euro anders als Etsy-Tand nicht einfach so per Post verschicken kann. In genau dieser Abwicklung sind aber die Schweiz und damit auch Wydr stark.

3 500 Werke von 1 500 Künstlern sind mittlerweile auf Wydr zu finden. 300 000-mal wurde die App seit Januar heruntergeladen. Der Clou: Wie bei Tinder lernt die App den Geschmack des Nutzer über die Zeit, je nachdem, in welche Richtung man wischt. Das Geschäftsmodell von Wydr: zum einen die Vermutung, dass im mittelpreisigen Segment zwischen Kunstdrucken und Galerieware noch viele potenzielle Kunden nicht bedient werden. Zum anderen die Hoffnung, dass es Menschen abseits der Metropolen gibt, die Kunst kaufen wollen. „Eines der ersten Geschäfte auf Wydr war ein Verkauf von Norwegen nach Mexiko. Das wäre ohne uns nie so direkt und unkompliziert möglich gewesen“, sagt Hahn.

Matthias Dörner und Timo Hahn, Wydr , im Hinterhof vom Café Auer & Co Sihlquai 133 8005 ZürichJe länger man Hahn und Dörner zuhört, desto klarer wird: So spinnert ist die Idee mit dem Tinder für die Kunst vielleicht gar nicht. Sondern ganz im Gegenteil: durchdacht und eben nicht einfach mal ausprobiert. Wie überhaupt alle Ideen in Zürich, dem nettesten, klügsten und, ja, leider auch langweiligsten Startup-Standort der Welt.

Aber, erzählt einer der Mitarbeiter von Uepaa fast nebenbei, es gibt noch einen sehr schweizerischen Faktor, der Startups hilft. Ja, Zürich ist teuer. Ja, die Konkurrenz ist groß. Und ja, man kann nicht einfach mal anfangen und erst später schauen, wo das Geld herkommt. Aber der Arbeitsmarkt in der Schweiz sei derart arbeitnehmerfreundlich, dass es kein größeres Problem ist, einen festen Job zu kündigen, um sein Glück in einem Startup zu versuchen. Wenn es nicht klappt, wartet der nächste hochdotierte Vollzeitposten schon. Was andererseits auch bedeutet: Go big or go back to your old job.

Gründen ist in Zürich keine Frage der Coolness, der Büroeinrichtung oder der Müslibar. Sondern einfach der erste Schritt zu einem anständigen, sauberen, soliden Unternehmen. Also etwas, wovon in Berlin die meisten nur träumen können.

Der Artikel stammt aus der aktuellen Ausgabe 05/2016 der Business Punk. Titelgeschichte: Wie Siri-Erfinder Dag Kittlaus mit dem Sprachassistenten “Viv“ neue Standards setzen will. Außerdem unser Dossier AI, Ryanair-CEO Michael O’Leary und viele weitere Beiträge. Mehr Infos hier

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