Leadership & Karriere Meerkat: Angeschissen? Drauf geschissen!

Meerkat: Angeschissen? Drauf geschissen!

Ben Rubin könnte heulen: Erst wird seine Livestreaming-App MEERKAT als das nächste große Ding gefeiert, und gleich danach würgt Twitter ihm den Kanal ab. Aber Rubin heult nicht. Sondern sucht sich einen neuen Freund

Ben Rubins Shirt strahlt die Unerschütterlichkeit aus, die er gerade braucht. Wann immer der 27-Jährigen derzeit durch die Tech-Lande tingelt, ob nach Austin zum South By Southwest (SXSW), zum Fernsehinterview nach San Francisco, zum Branchentreffen der Tech-Newssite „Techcrunch“ oder über die Digitalkonferenz DLD in New York, stets spannt das gleiche knallgelbe Shirt mit dem Firmenlogo über seinem gesunden Bauch, als wolle er sagen: Ich bin noch da, und ich stehe so aufrecht wie dieses Erdmännchen hier. Dabei hat es Meerkat (Englisch für Erdmännchen) in den vergangenen Monaten dermaßen gebeutelt, dass Rubin allen Grund hätte, umzufallen und sich in ein Loch zu verkriechen. Kaum eine App hat so einen rasanten Aufstieg erlebt wie Meerkat Ende Februar dieses Jahres. Und kaum eine hat so schnell einen so schmerzhaften Rückschlag erlitten. Noch nicht einmal drei Wochen später und von einem mächtigen Gegner: Twitter. Doch Rubin will sich wehren. Und er hat bereits einen ebenso mächtigen Verbündeten für sein Vorhaben gefunden:

Facebook.

Das possierliche Erdmännchen hat Rubin als Namensgeber gewählt, weil die Tiere sich immer so aufmerksam umschauen und im Rudel am wohlsten fühlen. So wie seine Kunden. Die können über Meerkat per Smartphone einen Livestream senden, der sich von jedem ihrer Follower ansehen und kommentieren lässt. Wie Youtube, nur live. Der Gründer kommt aus Israel, spricht ein holpriges Englisch und sieht aus wie der freundliche Tech-Nerd von nebenan: klein, ein bisschen rund, Wuschelfrisur, immer Jeans und T-Shirt, einen Rucksack auf dem Rücken und ein schnelles Lächeln im Gesicht.

Drei Jahre haben er und sein zehnköpfiges Team daran gearbeitet, einen Livestreaming-Dienst zu starten. Sie hatten schon einmal eine mäßig erfolgreiche App namens Yevvo, die Rubin nach ein paar Monaten einstellte. Anfang dieses Jahres bastelten sie im Hauptquartier in San Francisco an einer anderen App namens Air, Meerkat war zunächst eigentlich nur eine Spielerei des Technikchefs, ein „Experiment“, sagt Rubin. Doch nach zwei Monaten Tüfteln kam einfach der Erfolg. Plötzlich und gewaltig.

Am Freitag, den 27. Februar, erwähnten noch nicht einmal 500 Leute bei Twitter den Hashtag #Meerkat, am Dienstag waren es schon 4 000. Innerhalb von drei Tagen nutzten 15 000 Menschen die App. Meerkat war das Hauptgesprächsthema im Silicon Valley. Schauspieler und Investor Ashton Kutcher meerkatete aus seinem Leben. Apple empfahl Meerkat als Top-App im Appstore. Auf dem SXSW übertrug die Tech-Community eine Party oder Podiumsdiskussion nach der anderen bei Meerkat. Das Magazin „Time“ nannte die App den „Star von South By Southwest“. Eine Gruppe Wagniskapitalgeber, angeführt von Greylock Partners, gab Rubin 14 Mio. Dollar. Rubin konnte sich die Investoren praktisch aussuchen, und so gehören zu der Gruppe Stars wie Kutcher und Jared Leto und Youtube-Gründer Chad Hurley. Und wenn Rubin von Interview zu Interview hetzte, schien das gelbe T-Shirt ihn fast schon in eine Reihe mit Tech-Legenden wie Evernote-Chef Phil Libin zu heben, der ebenfalls notorisch mit der immer gleichen Startup-Logo-Shirt-Uniform auffällt. Einmal war Rubin drei Tage am Stück wach.

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TOOL FÜR SCHWARZGUCKER

Menschen nutzen Meerkat für alles mögliche. Ein New Yorker Makler zeigt ausländischen Kaufinteressenten Immobilien über die App. Kirchgänger übertragen Gottesdienste live. Ein paar Journalisten haben die pompöse Vorstellung der Apple Watch bei Meerkat gestreamt. Den lang erwarteten Boxkampf zwischen Floyd Mayweather und Manny Pacquiao, den das amerikanische Bezahlfernsehen für eine Gebühr von fast 100 Dollar ausstrahlte, übertrugen Meerkat-Nutzer live und kostenlos. (Für die Copyright-Probleme gibt es noch keine Lösung.) Madonna hat ihr neues Musikvideo zuerst bei Meerkat gezeigt – wenn auch mit technischen Problemchen. Und US-Politiker wie Jeb Bush streamen ihre Reden

Doch dann kommt die Sache mit Twitter. Erdmännchen haben etwas leicht Schmarotzerhaftes: In der afrikanischen Savanne beziehen sie, obwohl selbst des Grabens fähig, gerne die Tunnelsysteme von Erdhörnchen. So ein Tunnelgebäude war für Meerkat Twitter: Die App war von Anfang an mit dem Social Graph verbunden, Twitters Nutzer-Datenbank. Über Twitter fanden Meerkat-User ihre Follower, wer einen Livestream sendete, vermeldete das automatisch an das Unternehmen. Bis Twitter die Sache zu bunt wurde – und man sich fix selbst eine Live-Video-App kaufte: Periscope. Keiner hätte gedacht, dass sich Twitter, längst ein Großkonzern, so schnell bewegen kann. Und dass der Wirt sich in einen Rivalen des uneingeladenen Gastes verwandeln würde.

Rubin wird den Moment des Anrufs nie vergessen. Wer ihn danach fragt, bekommt erst ein kleines Schweigen von dem sonst so redseligen Mann. „Ehrlich gesagt war ich nicht schockiert“, sagt er dann. Von Anfang an hat er damit gerechnet, dass Meerkat irgendwann auf eigenen Beinen stehen muss. „Schockiert war ich nur über das Timing.“ Am Telefon ist ein Twitter-Manager, der Rubin höflich daran erinnert, dass niemand den Social Graph benutzen darf, um Twitter Konkurrenz zu machen, und verkündet, dass man Meerkat vom Datenpool abschneiden werde. „Okay, das verstehen wir“, sagt Rubin. „Wie lange haben wir Zeit?“ „Bis Mitternacht“, antwortet der Manager. Rubin schafft es nicht einmal, noch ein paar Stunden herauszuschlagen. „Das war ätzend“, sagt er. „Ich hatte ja nichts, was ich ihnen hätte anbieten können. Man kann schlecht feilschen, wenn man auf den Deal angewiesen ist.“ Rubin ruft sofort sein ganzes Team ins Büro, an einem Samstag. Sie versuchen, Meerkat so schnell wie möglich neu zu programmieren, sodass ohne Twitter nicht alles zusammenbricht. Aber seither schauen sie zu, wie Periscope wächst. Und wie es bergab geht mit Meerkat.

Die App hat zwar schon zwei Millionen Nutzer. Aber die Zahl der Downloads sinkt, in den USA ist Meerkat schon aus den Top 1 000 abgestiegen. Es ist schwer, auf Meerkat noch die Nutzer zu finden, mit denen man auf Twitter verbunden ist. Es ist überhaupt schwer, jemanden zu finden, den man kennt oder der einen interessiert. Periscope dagegen wächst rasant. In den ersten zehn Tagen findet die App eine Million Abonnenten. Twitters Marketingabteilung schanzt Periscope die Promikontakte zu, die Twitter über Jahre hinweg aufgebaut hat. „Periscope macht einen guten Job, das ist für mich nichts Persönliches“, sagt Rubin freundlich. „Die profitieren von den Beziehungen, die sie in neun Jahren Twitter aufgebaut haben.“ Mary J. Blige, Roger Federer, Ellen DeGeneres und Jamie Oliver sind bei Periscope. Und viele der Medienjournalisten, die Meerkat zum Hype machten, erklären die App jetzt für tot. Oder zumindest für todkrank.

BLOSS NICHT IN PANIK GERATEN

Aber Rubin gibt nicht auf. Er rennt von Konferenz zu Konferenz und erklärt, wie es jetzt weitergeht, immer freundlich, immer mit höflichen Worten für Twitter, er gibt jedem seine E-Mail-Adresse, schüttelt Hunderte Hände, sagt immer wieder „Nice to meet you“ und „Thank you for your time“. Periscopes Erfolg, so sein Mantra, bedeute nicht das Aus für Meerkat. „Wir machen unterschiedliche Produkte“, sagt er. „Es wäre doch bescheuert zu sagen, dass es wegen Facebooks Erfolg kein Twitter, Instagram oder Snapchat geben kann. Das geht doch auch nebeneinander.“

Anders als Periscope speichert Meerkat die Livestreams nicht. Viele kritisieren das, aber laut Rubin macht der Jetzt-oder-nie-Charakter den Charme von Meerkat aus. „Und wir setzen viel mehr auf Mitwirkung, wir ziehen die Nutzer mit hinein.“ Bei Meerkat kann man die Livestreams kommentieren und dadurch beeinflussen, worüber der Streamer gerade redet oder was er zeigt. Das geht zwar bei Periscope auch, steht aber nicht so im Vordergrund. Darin liege die Zukunft, sagt Rubin: „Das vergangene Jahrzehnt drehte sich um Konsumieren und Teilen. Im nächsten Jahrzehnt geht es darum, die Inhalte mitzubestimmen.“ Der Jetzt-oder-nie-Charakter klingt vertraut – von Snapchat, dem sozialen Netzwerk, das Fotos wieder verschwinden lässt. Und das ein 3-Mrd.-Dollar-Angebot von Facebook in den Wind geschlagen hat.

Apropos: Facebook erweist sich schon jetzt als wichtiger neuer Ersatzpartner für Meerkat. Inzwischen kann man sich auch mit dem Facebook-Profil bei Meerkat anmelden und braucht kein Twitter-Konto mehr. Man kann seine Facebook-Freunde bei Meerkat finden und Meerkat-Streams bei Facebook ankündigen. In der Branche wird sogar spekuliert, Facebook könnte – siehe Snapchat – an einer Übernahme von Meerkat interessiert sein. „Ich würde nicht an Facebook verkaufen“, dementiert Rubin allerdings.

Dafür hat er gerade zwei Top-Manager angeheuert: Die Ex-Medienchefin von Tumblr, die für das Blog- Unternehmen Promis angeheuert hat, soll das gleiche jetzt für Meerkat schaffen und ein Medienteam aufbauen. Chloe Sladden, Ex-Medienchefin von Twitter, hat die Seiten gewechselt und wird Beraterin bei Meerkat. Um einen eigenen Social Graph aufzubauen, eine eigene Community, die nicht auf Kontakte aus anderen Apps angewiesen ist. Meerkat stellt nun auch eine Plattform für externe Softwareentwickler bereit, die Apps rund um Meerkat bauen sollen, zum Beispiel um die Livestreams zu speichern.

„Livestreams sind etwas ganz Eigenes. Wir haben seit Jahrzehnten gelernt, was ein gutes Foto oder ein gutes Video ist. Jetzt lernen wir ein Vokabular für Livestreams. Die Zeit ist reif dafür.“ Die Mittel, um eine Lösung im Kampf gegen Periscope zu finden, hat Meerkat jedenfalls, so Rubin. „Wir haben eine Menge Geld bekommen und fliegen nicht in Privatjets herum. Wir müssten uns schon doof anstellen, damit das Geld nicht reicht.“ Und wenn das passiert: Vielleicht erscheint der Facebook-Bau dann doch schön kuschelig.

Text: Kathrin Werner

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